Als sie geboren wurden, tobte in ihrer Heimat gerade der Zweite Weltkrieg. Mehr als acht Jahrzehnte später stehen Paul Thelen, Dr. Horst Luckey, Prof. Dr. Roland Fuchs und Friedrich Hager am Samstag an der Startlinie eines Velorennens, das über 5000 Kilometer und durch mehrere Klimazonen von der amerikanischen West- an die Ostküste führt.
Die vier Deutschen bilden das älteste Quartett in der Geschichte des Race Across America (RAAM), welches seit 1982 existiert und als härtester Ausdauerwettkampf für Radsportler gilt. Mit ihrer Teilnahme wollen die topfitten Pensionäre zeigen, «dass man im Alter noch mehr Ziele haben kann, als morgens zum Bäcker zu spazieren».
Mit einer positiven Einstellung und viel Lebensfreude nehmen sie den weiten Weg unter die Räder, um das Ziel in Annapolis (Maryland) zu erreichen. Es in acht Tagen zu schaffen, hat sich das Team vorgenommen.
Alle vier Fahrer haben zehntausende, nein, wohl eher hunderttausende Radkilometer in den Knochen. Blickt man auf ihre Lebensläufe, tauchen dort frühere Teilnahmen am RAAM auf oder solche am Mountainbike-Rennen «Desert Dash» in Namibia. Einer war am Mount Everest, ein anderer paddelte 800 Kilometer im Kanu durch den Yukon. «System, Disziplin, Ausdauer, Willenskraft. Das sind die vier Zutaten für Erfolg eines jeden Projektes», sagt der pensionierte Zahnarzt Horst Luckey. «Gemeinsam haben wir so viel davon, dass wir die Herausforderung meistern werden.»
Der sechsfache RAAM-Sieger Christoph Strasser aus Österreich zeigt sich beeindruckt von seinen reifen Sportkameraden. «Es ist für mich eine absolute Inspiration, wenn man sieht, welche Leistungen auch in diesem Alter möglich sind, wenn man auf seine Gesundheit achtet, immer in Bewegung und in seinem Denken ‹jung und aktiv› bleibt und sich nicht scheut, Herausforderungen anzunehmen», so Strasser. Er selber wird dieses Jahr nicht in den Vereinigten Staaten starten.
Das Besondere an Rennen wie dem RAAM ist, dass es keine Etappen gibt und dass die Zeit immer weiter läuft. Sie tickt ab dem Moment des Startschusses und wird erst im Ziel wieder angehalten.
Wie oft und wie lange man schläft, ist allen Teilnehmern selber überlassen. Es ist ein Abwägen, das gut überlegt sein will. Wer stoppt, verliert Zeit. Aber wer sich hinlegt und dem Körper eine kurze Pause gönnt, kann zu neuen Kräften gelangen und damit schlussendlich schneller vorankommen.
Über die Pausen entscheidet in der Regel das Begleitteam, weil die meisten Sportler irgendwann in einen Zustand kommen, in dem sie nicht mehr klar denken können. Christoph Strasser war beim letzten seiner Siege rund 8 Tage und 6 Stunden im Sattel. In dieser Zeit legte er bloss fünf Schlafpausen und sieben kurze Powernaps ein. Seine gesamte Schlafzeit während des Rennens betrug nicht einmal zehn Stunden.
In der Team-Kategorie ist es so, dass jeweils ein Velofahrer in die Pedalen tritt und die drei anderen sich erholen können. Wirklich gestoppt wird dadurch nicht. Das Team ist stets in Bewegung, geschlafen wird im fahrenden Wohnmobil.
Das deutsche Ü80-Quartett hat sich, wie die meisten Viererteams, intern in zwei Zweierteams aufgeteilt. «Ein Duo hat jeweils eine Acht-Stunden-Schicht, während der sich das andere Duo erholen kann», schildert Roland Fuchs im WDR die Taktik. «Diejenigen, die auf der Strasse sind, wechseln sich stündlich ab. Da gibt man während einer Stunde alles, danach kann man ja eine Stunde im Begleitauto pausieren.»
Grosse Zeit, um sich zu akklimatisieren, geben sich die Senioren übrigens nicht. Sie reisen erst morgen in die USA, wo sie ab Samstag im Sattel sitzen werden.
Die dreifache Siegerin Nicole Reist verzichtet in diesem Jahr auf die Titelverteidigung. «Das Budget für das RAAM ist sehr hoch und alleine deshalb kann ich mir die Teilnahme nicht jedes Jahr leisten», sagt sie auf watson-Anfrage. Zudem benötige die Vorbereitung viel Zeit «und wenn ich am Start stehe, will ich stärker sein als beim letzten Antreten». Dafür habe die Vorbereitungszeit nicht ausgereicht, weshalb sie sich für diese Saison andere Ziele gesteckt habe.
Weil die 38-Jährige aus Weisslingen bei Winterthur im Vorjahr in der Endphase des Rennens zwei Mal stürzte, konnte sie ihr Vorhaben, einen neuen Frauen-Rekord aufzustellen, nicht in die Tat umsetzen. Trotz des Sieges blieb bei Reist deshalb eine gewisse Unzufriedenheit. «Natürlich denke ich daran, die Geschichte, welche 2022 nicht wunschgemäss endete, noch fertig zu schreiben. Aber ob ich dies umsetze, werde ich mit meinem Team am Ende dieser Saison entscheiden.»
Mit Isa Pulver steht dafür eine andere ehemalige Siegerin am Start. Die im Kanton Bern lebende Zürcher Oberländerin konnte das RAAM 2015 für sich entscheiden, 2019 wurde sie Dritte.
Die 52-Jährige strebt in den USA den zweiten Sieg an und setzt dabei unter anderem auf eine neue Schlafstrategie und auf die permanente Überwachung ihres Körpers durch neue Messmethoden. Dadurch sollen Veränderungen rasch erkannt werden und entsprechend gehandelt werden können. «Wir sind in der Vorbereitung noch zielgerichteter und sensibler vorgegangen als in den vergangenen Jahren», berichtet Pulver.
Bei den Männern ist die Schweiz mit dem Walliser Lionel Poggio vertreten. Sein Bubentraum sei es gewesen, die Tour de France zu gewinnen, schreibt er auf seiner Website. «Das einzige grössere Hindernis sah ich darin, dass ich lernen musste, freihändig zu fahren, um im Ziel zu jubeln.» Einige andere Aktivitäten hätten ihn von diesem Ziel abgelenkt, doch der mittlerweile 53-Jährige sitzt längst wieder im Sattel.
Im vergangenen Jahr musste Poggio das RAAM nach rund 3200 der 5000 Kilometer aufgeben. «Ich bin frustriert, dass ich es nicht geschafft habe, aber auch stolz darauf, es so weit geschafft zu haben», bilanzierte er danach im «Nouvelliste».
Ich bin froh wenn ich mit Ü80 noch ne anständige Regiorunde aufm Velo hinkriege…