Vor dem WM-Auftakt standen immer wieder andere Schweizer im öffentlichen Zentrum. Xherdan Shaqiri beispielsweise, die schillernde Bayern-Figur, war ein beliebtes Sujet. Von Captain Gökhan Inler veröffentlichte die NZZ multimedial jedes Detail seiner Vergangenheit. Stephan Lichtsteiners Aufstieg zum internationalen Top-Verteidiger wurde in allen Facetten beleuchtet, die Formschwankungen von Granit Xhaka und Johan Djourou standen vom ersten Camp-Tag an täglich zur Debatte.
Und nahezu jeder Experte porträtierte das neue SFV-Stürmer-Juwel Josip Drmic. Nach der späten Wende im schwierigen Startspiel gegen Ecuador jubelte die Fussball-Schweiz geschlossen dem Siegestorschützen Haris Seferovic zu. Valon Behramis spektakuläres Tackling und sein wilder «Galopp» über das halbe Spielfeld lösten landesweit einen Sturm der Begeisterung aus. Einer aber blieb im Hintergrund, genoss den perfekten WM-Start ohne Tweets und laute Grussbotschaften: Ricardo Rodriguez – der eigentliche Auslöser der Glücksgefühle.
Im nächsten Spiel am Freitag gegen Frankreich wird Rodriguez auf Mathieu Valbuena treffen, einen schnellen und dribbelstarken Spieler. «Ich weiss, wie ich mich gegen ihn verhalten muss», sagt der Schweizer gegenüber SRF und man glaubt ihm aufs Wort. Ecuadors Star Antonio Valencia meldete er komplett ab.
Der linke Aussenverteidiger ist in jeglicher Hinsicht ein Phänomen. Als knapp 18-jähriger verdrängte er beim FCZ den früheren Nati-Leader Ludovic Magnin. Zwei Saisons später verschaffte er sich in Wolfsburg ohne allzu grosse Verzögerung Zutritt zur Stammformation eines ambitionierten Bundesligisten. In der SFV-Auswahl ging er seit dem Debüt im Herbst 2011 gleich vor: immer still und leise zwar, aber keineswegs schüchtern, sondern zielorientiert.
In Brasilien setzt das Gros der Equipen auf der Position des linken Aussenverteidigers auf eher erfahrene Spieler. Rodriguez zählt zu den jüngsten Stammspielern. Wobei: Sein 1992er-Jahrgang trügt. Seit seinem Wechsel nach Deutschland hat er bereits 75 Bundesliga-Spiele bestritten. In der letzten Saison verpasste Rodriguez keine einzige Sekunde. Und mit 15 Skorerpunkten gehörte er zu den produktivsten Wolfsburgern.
Für Klischees eignet sich der hoch anständige junge Mann aus Schwamendingen nicht. Er trägt den Haarzopf nicht, um aufzufallen. Und nur weil sein Körper von ein paar Tattoos mehr bedeckt ist, käme keiner auf die Idee, ihn als jungen Paradiesvogel zu klassifizieren. Er kopiert niemanden, Rodriguez wirkt ausnahmslos echt und unverstellt. Oder wie es Behrami sagt: «Einfach so, als wäre er schon zehn Jahre bei uns dabei.»
Seine Art kommt bei den Mitspielern gut an. Sie schätzen den pflegeleichten Kollegen. Und seine spielerischen Inputs auf dem Feld gewichtet der Kern als speziell hoch: «Er hat unglaubliche Qualitäten im Spiel gegen vorne», lobt Behrami und hebt die Bedeutung des Wolfsburgers gleich noch um mehrere Prozentpunkte an: «Ich zähle ihn bereits zu den wichtigsten Spielern, die wir haben.»
Lichtsteiner, der andere Wortführer aus dem Spitzensegment der Serie A im Schweizer Team, pflichtet dem Tessiner bei: «Dass er in der Bundesliga bereits alle Standards ausführen darf, spricht für ihn. Ricardo kann eine grosse Karriere machen.»
Rodriguez gibt die Blumen gerne zurück, sagt: «Die Schweiz hat die besten Aussenverteidiger an dieser WM. Aber natürlich haben auch andere Mannschaften auf dieser Position eine hohe Qualität.» Dass Lichtsteiner und er oft in die Offensive gehen, mache die Schweiz unberechenbar.
Noch unterscheidet die beiden die Erfahrung in der Champions League, welche Rechtsaussen Lichtsteiner mit Juventus Turin bestritt. Fällt Rodriguez an der WM-Endrunde weiterhin derart auf wie im Startspiel, ist ein Wechsel zu einem europäischen Grossklub aber wohl nur noch eine Frage der Zeit. Champions-League-Sieger Real Madrid soll die Fühler nach dem jungen Schweizer mit Wurzeln in Spanien und Chile bereits ausgestreckt haben. (ram/si)