Der Schriftsteller Stefan Zweig beschreibt in seinem Buch «Die Welt von Gestern», wie sich Europa in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg vollkommen verändert hat. Er selbst wuchs in einer gutbürgerlichen jüdischen Familie in Wien auf. Der Gymnasiast Zweig musste deshalb strengen Regeln und Normen gehorchen.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts begann die Industrielle Revolution Wirkung zu zeigen. «Vierzig Jahre Frieden hatten den wirtschaftlichen Organismus der Länder gekräftigt, die wissenschaftlichen Entdeckungen den Geist jener Generation stolz gemacht; ein Aufschwung begann, der in allen Ländern unseres Europas fast gleichmässig zu fühlen war», schreibt Zweig.
Der wachsende Wohlstand machte die Menschen freier und schöner. Sie begannen Sport zu betreiben, und auch der Mittelstand konnte sich Ferien am Meer oder in den Bergen leisten. Europa war damals der Mittelpunkt der Erde, und innerhalb Europas konnte sich jeder ohne Pass nach Belieben bewegen. Von Wien bis Paris, von London bis Berlin breitete sich ein Gefühl der Toleranz und der Verbundenheit aus.
Der Student Zweig kostete die neue Freiheit in vollen Zügen aus: «Ich bedaure jeden, der nicht jung diese letzten Jahre des Vertrauens in Europa miterlebt hat», schwärmt er. «Denn die Luft um uns ist nicht tot und nicht leer, sie trägt in sich die Schwingungen und den Rhythmus der Stunde. Sie presst ihn unbewusst in unser Blut, bis tief ins Herz und ins Hirn leitet sie ihn fort.»
In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg begann sich der Himmel über Europa einzutrüben. Niemand konnte sich zwar einen Krieg, und schon gar keinen Weltkrieg, vorstellen. Doch Hass und Nationalismus waren unübersehbar auf dem Vormarsch. «Es war noch keine Panik, aber doch eine ständige schwelende Unruhe; immer fühlten wir ein leises Unbehagen, wenn vom Balkan her die Schüsse knatterten. Sollte wirklich der Krieg uns überfallen, ohne dass wir es wussten, warum und wozu?», schreibt Zweig.
Heute herrscht zwar keine Panik in Europa. Die ständig schwelende Unruhe jedoch ist erneut spürbar geworden. Das gilt ganz speziell im Vorfeld der französischen Wahlen. Emmanuel Macron hat in den Umfragen 20 Prozentpunkte Vorsprung auf Marine Le Pen, und ja, er hat das TV-Duell gegen die Populistin klar für sich entschieden.
In Frankreich wird jedoch das gleiche Drama gespielt wie in fast allen westlichen Ländern: Eine liberale globale Elite wird von rechtspopulistischen Nationalisten herausgefordert. Und in jüngster Zeit waren das immer sehr enge Matches.
Marine Le Pen kann sich darauf verlassen, dass sie vom «pays réel» gestützt wird. Darunter versteht man das konservative und stockkatholische ländliche Frankreich und die verarmten Industriestädte im Norden. Macron hingegen vertritt das «pays légal», die liberale urbane Elite in Städten wie Paris oder Lyon.
Simon Kuper, der seit Jahrzehnten in Frankreich lebende Kolumnist der «Financial Times», umschreibt diesen Konflikt wie folgt: «Die Vorstellung von ‹zwei Frankreichs› bestimmt die Art und Weise, wie viele Franzosen aus allen politischen Lagern diese Wahl betrachten.»
Für Le Pen ist Macron so gesehen der ideale Gegner. Er ist ein klassischer Linksliberaler, der von offenen Grenzen und Europa schwärmt. Er war nicht nur Banker, er war Investmentbanker bei Rothschild! Dass diese Bank heute eher unbedeutend geworden ist, spielt keine Rolle. Der Name steht nach wie vor für mächtige jüdische Bankiers.
Gegen Le Pen spricht die Tatsache, dass auf ihrem «realen Frankreich» der Makel von Vichy haftet. Darunter versteht man die französische Regierung, die mit Hitler kooperiert hat. Selbst für viele konservative Franzosen war der Front National deshalb bisher unwählbar. Doch die jüngere Generation kann sich kaum noch an Vichy erinnern, und Le Pen hat selbst ihren Vater aus der Partei geschmissen, um jeden Nazi-Verdacht im Keim zu ersticken.
Einen weissen Mittelstand, der sich von der Globalisierung benachteiligt, vom wirtschaftlichen Abstieg bedroht und von einer liberalen Elite verspottet fühlt, gibt es auch in Frankreich. Das sind gefährliche Voraussetzungen: In den USA hat dieser Mittelstand Donald Trump ins Weisse Haus gehievt, in Polen und Ungarn faschistoide Nationalisten an die Macht gebracht. In England war dieser Mittelstand die treibende Kraft hinter dem Brexit, und in Italien wird er zum Rückgrat der Fünf-Sterne-Bewegung.
Ein Sieg Le Pens ist daher nicht auszuschliessen. Er hätte fatale Folgen. Le Pen will, dass Frankreich den Euro verlässt oder zumindest den Franc als Parallelwährung wieder einführt. Das ist ein Rezept für Streit der übelsten Sorte. Die immer gehässiger werdende Stimmung im Vorfeld des Brexit zeigt, wie sensibel die Menschen auf das Thema Geld reagieren.
Dabei ist der Brexit im Vergleich zu einem Frexit bloss ein Kindergeburtstag. Sollte es dazu kommen, dann würden die nur oberflächlich verheilten Wunden des Zweiten Weltkrieges mit unabsehbaren Folgen aufbrechen.
Die neuen Nationalisten geben sich gerne als fromme Pazifisten und stellen ein Europa in Aussicht, in dem die einzelnen Nationen selbstbestimmt und friedlich koexistieren. Nur, ein solches Europa hat es nie gegeben – und wird es auch nie geben. Auch wenn Europa nicht mehr der Nabel der Welt ist, hatte trotzdem Glück, wer nach dem Zweiten Weltkrieg geboren wurde. Er konnte wie Stefan Zweig eine insgesamt glückliche und tolerante Zeit verbringen. Ein Wahlsieg Le Pens würde dies alles in Frage stellen. Die Luft um uns würde «tot und leer» werden.