
Der Handschlag mit der künstlichen Intelligenz wird ein gefährliches Abenteuer für die Menschen. bild: shutterstock
Der Historiker Yuval Noah Harari hat ein Buch
veröffentlicht, das gleichzeitig provoziert und irritiert.
22.08.2017, 19:0823.08.2017, 10:54

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«Für den Durchschnittsamerikaner oder -europäer stellt Coca-Cola eine weitaus tödlichere Bedrohung dar als al-Qaida»,
schreibt Yuval Noah Harari in seinem Buch «Homo Deus». Das Zitat ist mehr als
eine billige Provokation. Der israelische Geschichtsprofessor stellt nämlich
eine These auf, die unser Weltbild erschüttert: Individualität und Humanismus gehören
der Vergangenheit an. Im digitalen Zeitalter sind wir zu biologischen
Algorithmen mutiert und müssen unsere Vorstellung darüber, was wir sind und in
welcher Gesellschaft wir leben, neu denken.

Sorgt weltweit für Aufmerksamkeit: Yuval Noah Harari.
Das Coca-Cola-Zitat begründet Harari wie folgt:
Hunger und Seuchen sind im 21. Jahrhundert weitgehend überwunden. «Es gibt
heute praktisch keine natürlichen Hungersnöte mehr auf dieser Welt, sondern
nur politische», so Harari. Und: «Die weit überwiegende Mehrheit der Menschen
stirbt an nicht-ansteckenden Krankheiten wie Krebs oder Herzleiden oder
schlicht aus Altersgründen.» Die grösste Gefahr für unser Leben geht damit von Übergewicht und
falscher Ernährung aus.
«Glaubt man den Biowissenschaften, so sind Glück und Leid nichts weiter als unterschiedlich ausbalancierte körperliche Empfindungen.»
Nun ist es dem Menschen jedoch nicht vergönnt,
mit dem, was er hat, auch zufrieden zu sein. Wenn Hunger und Krankheit besiegt
sind, was kommt als Nächstes? Unsterblichkeit, Glück und Göttlichkeit, sagt
Harari. «Nachdem wir die Menschheit über die animalische Ebene des
Überlebenskampfes hinausgehoben haben, werden wir nun danach streben,
Menschen in Götter zu verwandeln und aus dem Homo sapiens den Homo deus
zu machen.»
Langlebigkeit oder gar Unsterblichkeit sind
jedoch nur bedingt erstrebenswert. Wenn Menschen immer älter werden wollen,
dann werden sie jedes Risiko vermeiden, das zu einem gewaltsamen Tod führen
könnte. Das Resultat ist eine vergreiste Gesellschaft, die buchstäblich
erstarrt. Auch Glück ist bekanntlich relativ und zudem von der Natur bestimmt.
«Glaubt man den Biowissenschaften, so sind Glück und Leid nichts weiter als
unterschiedlich ausbalancierte körperliche Empfindungen», so Harari. «Wir
reagieren niemals auf Ereignisse in der äusseren Welt, sondern nur auf
Empfindungen in unserem eigenen Körper.»
Der Mensch schafft sich selbst ab
Auf dem Weg zu einem gottähnlichen Wesen, das
den Tod überwindet und das Glück maximiert, schafft sich der Homo sapiens damit
quasi selbst ab. «In ihrem Streben nach Gesundheit, Glück und Macht werden die
Menschen ganz allmählich zuerst eines ihrer Merkmale, dann noch eines und noch
eines verändern, bis sie schliesslich keine Menschen mehr sind», stellt Harari
fest.

Ist der Mensch eine sehr komplizierte Kaffeemaschine?bild: shutterstock.
Nur: Was ist überhaupt ein Mensch? Ein
biologischer Algorithmus, lautet die Antwort der Biowissenschaft. Was aber ist
ein Algorithmus? Harari greift zu einem Vergleich
mit einem Getränkeautomaten: Man wirft eine Münze ein und wählt: Kaffee,
schwarz, ohne Zucker. Oder Tee, mit Zucker und Milch, etc. «Der Apparat setzt
sich brummend in Bewegung und vollzieht eine exakte Abfolge von Schritten»,
erläutert Harari. «Er schüttet kochendes Wasser in einen Becher mit einem
Teebeutel darin, fügt einen Löffel Zucker und Milch hinzu, und ding! Fertig ist
ein schöner Becher Tee. Das ist ein Algorithmus.»
Bio- und Computerwissenschaften bestimmen
heute den wissenschaftlichen Diskurs.
Aus ihrer Sicht ist der Mensch ein sehr komplexer Getränkeautomat mit
unzähligen Algorithmen. Das mit dem Menschen als Krönung der Schöpfung könnt ihr vergessen. Der Übergang zur Tierwelt ist fliessend. «Die Algorithmen, die
Menschen steuern, funktionieren über Sinneswahrnehmungen, Emotionen und
Gedanken», so Harari. «Und genau die gleiche Art von Algorithmen steuert
Schweine, Paviane, Otter und Hühner.»
«Es wird immer schwieriger werden, Religion und Wissenschaft auseinanderzuhalten.»
In diesem Weltbild haben Begriffe wie Seele,
Geist, Individualität und freier Wille keinen Platz mehr. Der Humanismus der Aufklärung
hat ausgedient, genauso wie die Einzigartigkeit eines jeden Menschen. «Glaubt
man der herrschenden wissenschaftlichen Lehre, so ist alles, was ich erlebe,
Ergebnis elektrischer Aktivitäten in meinem Gehirn, und es sollte deshalb
theoretisch möglich sein, eine vollkommen virtuelle Welt zu simulieren, die ich
nicht von der realen Welt unterscheiden kann», so Harari.

Werden nicht mehr gebraucht: Massenarmeen.Bild: EPA/EPA
Weshalb aber ist es dem Homo sapiens gelungen,
sich die Welt untertan zu machen? Weil er über einen ganz besonderen Algorithmus
verfügt. Er ist imstande, «auf sehr flexible Weise mit unzähligen Fremden zu
kooperieren», sagt Harari. «Diese ganz konkrete Fähigkeit – und nicht eine
unsterbliche Seele oder irgendeine einzigartige Form von Bewusstsein – erklärt
unsere Herrschaft über den Planeten Erde.»
Im traditionell humanistischen Weltbild sind
Religion und Wissenschaft natürliche Feinde. Bei Harari werden sie zu
Verbündeten, denn eine Religion ist nichts anderes als ein Bündel von Erklärungen für
unsere Gesellschaft. Diese Eigenschaft wird sehr gefragt werden.
«Im 21. Jahrhundert werden wir wirkmächtigere
Fiktionen und totalitärere Religionen als jemals zuvor schaffen», prophezeit
Harari. «Mit Hilfe von Biotechnologie und Computeralgorithmen werden diese
Religionen nicht nur jede Minute unseres Daseins kontrollieren, sondern auch in
der Lage sein, unseren Körper, unser Gehirn und unseren Geist zu verändern
sowie durch und durch virtuelle Welten zu erschaffen. Es wird deshalb immer
schwieriger, aber auch immer wichtiger werden, Fiktion und Wirklichkeit sowie
Religion und Wissenschaft auseinanderzuhalten.»
Wo bleibt der Sinn?
Ohne Religion, die der Welt einen Sinn gibt,
wird der wissenschaftliche Fortschritt zu einer Gefahr. «Vor uns sehen wir, zum
Greifen nahe, die Allmacht, doch unter uns gähnt der Abgrund des völligen Nichts»,
so Harari. «Auf praktischer Ebene besteht das moderne Leben aus einem ständigen
Streben nach Macht in einem Universum ohne Sinn.»

Traditionelle Religionen werden überflüssig.Bild: EPA/MTI
Diese Entwicklung wird zur tödlichen Gefahr
für den Liberalismus. «Die siegreichen liberalen Ideale drängen die Menschheit
nun dazu, nach Unsterblichkeit, Glück und Göttlichkeit zu streben», stellt
Harari fest. (...) Wenn Gentechnik und künstliche Intelligenz ihr volles
Potenzial entfalten, könnten Liberalismus, Demokratie und freie Märkte genauso
obsolet werden wie Feuersteinklingen, Musikkassetten, der Islam und der
Kommunismus.»
Auch der freie Wille wird im Zeitalter der Biowissenschaften endgültig zur Illusion. Der von Algorithmen gesteuerte Mensch
wird berechenbar. «Heute können wir mit Hilfe von Gehirnscannern die Wünsche
und Entscheidungen von Menschen vorhersagen, bevor sie sich dieser überhaupt
nur bewusst sind», stellt Harari fest. Das hat gravierende Konsequenzen: «Wenn
es Organismen tatsächlich an einem freien Willen fehlt, dann bedeutet das, dass
wir unsere Wünsche mit Hilfe von Medikamenten, Gentechnik oder direkter
Gehirnstimulation manipulieren und sogar kontrollieren könnten.»
Intelligenz koppelt sich vom Bewusstsein ab
Menschen können nicht nur manipuliert und
kontrolliert werden, sie werden auch überflüssig und durch Roboter und
intelligente Software ersetzt. «Menschen stehen in der Gefahr, ihren
ökonomischen Wert zu verlieren, weil sich Intelligenz vom Bewusstsein
abkoppelt» so Harari. Und: «Die Vorstellung, die Menschen würden immer über
eine einzigartige Fähigkeit verfügen, die für nicht-bewusste Algorithmen
unerreichbar ist, ist reines Wunschdenken.»

Konsequent zu Ende gedacht bedeutet dies: Es
besteht die reale Möglichkeit, dass eine «nutzlose Klasse» entsteht, ein Heer
von Menschen, die nicht mehr gebraucht werden. (Diese Dystopie wird im Übrigen
von verschiedenen anderen Vordenkern geteilt.) Auch Entscheidungen werden
zunehmend von intelligenten Systemen übernommen, weil sie viel weniger Fehler
machen als das menschliche Gehirn. «Die neuen Technologien des 21. Jahrhunderts
könnten somit die humanistische Revolution rückgängig machen, indem sie die
Menschen ihrer Macht berauben und stattdessen nicht-menschliche Algorithmen
damit betrauen», schreibt Harari.
Die Welt als Datenverarbeitungssystem
Schliesslich ist es denkbar, dass eine kleine
Elite entsteht, die mithilfe von künstlicher Intelligenz die Massen beherrschen
kann. Harari glaubt, dass die Voraussetzungen für einen Techno-Faschismus der
übelsten Sorte vorhanden sind:
«Die grossen menschlichen Projekte des 20. Jahrhunderts – die Überwindung von Hunger, Krankheit und Krieg – zielten darauf ab, für alle Menschen ohne jede Ausnahme eine universelle Norm von Wohlstand, Gesundheit und Frieden zu garantieren. Die neuen Projekte des 21. Jahrhunderts – das Streben nach Unsterblichkeit, Glück und Göttlichkeit – hoffen ebenfalls darauf, der gesamten Menschheit zu dienen. Doch weil diese Projekte darauf ausgerichtet sind, die Normen zu überwinden, statt sie zu sichern, könnten sie durchaus zur Entstehung einer neuen Kaste von Übermenschen führen, die ihre liberalen Wurzeln kappen und normale Menschen nicht viel besser behandeln wird als die Europäer des 19. Jahrhunderts die Afrikaner.»
Das «Internet der Dinge» ist eine Welt, die
sich mit intelligenter Software mehr oder weniger autonom steuert. Diese Welt
ist ein riesiges Datenverarbeitungssystem, in welcher der Mensch lediglich ein
Instrument war, sie zu erschaffen. «Dieses kosmische Datenverarbeitungssystem
wäre dann wie Gott. Es wird überall sein und alles kontrollieren, und die
Menschen sind dazu verdammt, darin aufzugehen.» Nicht wirklich eine reizvolle
Perspektive. Vielleicht sollten wir uns ernsthaft überlegen, wie wir Humanismus und
Liberalismus retten können.
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