«Für den Durchschnittsamerikaner oder -europäer stellt Coca-Cola eine weitaus tödlichere Bedrohung dar als al-Qaida», schreibt Yuval Noah Harari in seinem Buch «Homo Deus». Das Zitat ist mehr als eine billige Provokation. Der israelische Geschichtsprofessor stellt nämlich eine These auf, die unser Weltbild erschüttert: Individualität und Humanismus gehören der Vergangenheit an. Im digitalen Zeitalter sind wir zu biologischen Algorithmen mutiert und müssen unsere Vorstellung darüber, was wir sind und in welcher Gesellschaft wir leben, neu denken.
Das Coca-Cola-Zitat begründet Harari wie folgt: Hunger und Seuchen sind im 21. Jahrhundert weitgehend überwunden. «Es gibt heute praktisch keine natürlichen Hungersnöte mehr auf dieser Welt, sondern nur politische», so Harari. Und: «Die weit überwiegende Mehrheit der Menschen stirbt an nicht-ansteckenden Krankheiten wie Krebs oder Herzleiden oder schlicht aus Altersgründen.» Die grösste Gefahr für unser Leben geht damit von Übergewicht und falscher Ernährung aus.
Nun ist es dem Menschen jedoch nicht vergönnt, mit dem, was er hat, auch zufrieden zu sein. Wenn Hunger und Krankheit besiegt sind, was kommt als Nächstes? Unsterblichkeit, Glück und Göttlichkeit, sagt Harari. «Nachdem wir die Menschheit über die animalische Ebene des Überlebenskampfes hinausgehoben haben, werden wir nun danach streben, Menschen in Götter zu verwandeln und aus dem Homo sapiens den Homo deus zu machen.»
Langlebigkeit oder gar Unsterblichkeit sind jedoch nur bedingt erstrebenswert. Wenn Menschen immer älter werden wollen, dann werden sie jedes Risiko vermeiden, das zu einem gewaltsamen Tod führen könnte. Das Resultat ist eine vergreiste Gesellschaft, die buchstäblich erstarrt. Auch Glück ist bekanntlich relativ und zudem von der Natur bestimmt. «Glaubt man den Biowissenschaften, so sind Glück und Leid nichts weiter als unterschiedlich ausbalancierte körperliche Empfindungen», so Harari. «Wir reagieren niemals auf Ereignisse in der äusseren Welt, sondern nur auf Empfindungen in unserem eigenen Körper.»
Auf dem Weg zu einem gottähnlichen Wesen, das den Tod überwindet und das Glück maximiert, schafft sich der Homo sapiens damit quasi selbst ab. «In ihrem Streben nach Gesundheit, Glück und Macht werden die Menschen ganz allmählich zuerst eines ihrer Merkmale, dann noch eines und noch eines verändern, bis sie schliesslich keine Menschen mehr sind», stellt Harari fest.
Nur: Was ist überhaupt ein Mensch? Ein biologischer Algorithmus, lautet die Antwort der Biowissenschaft. Was aber ist ein Algorithmus? Harari greift zu einem Vergleich mit einem Getränkeautomaten: Man wirft eine Münze ein und wählt: Kaffee, schwarz, ohne Zucker. Oder Tee, mit Zucker und Milch, etc. «Der Apparat setzt sich brummend in Bewegung und vollzieht eine exakte Abfolge von Schritten», erläutert Harari. «Er schüttet kochendes Wasser in einen Becher mit einem Teebeutel darin, fügt einen Löffel Zucker und Milch hinzu, und ding! Fertig ist ein schöner Becher Tee. Das ist ein Algorithmus.»
Bio- und Computerwissenschaften bestimmen heute den wissenschaftlichen Diskurs. Aus ihrer Sicht ist der Mensch ein sehr komplexer Getränkeautomat mit unzähligen Algorithmen. Das mit dem Menschen als Krönung der Schöpfung könnt ihr vergessen. Der Übergang zur Tierwelt ist fliessend. «Die Algorithmen, die Menschen steuern, funktionieren über Sinneswahrnehmungen, Emotionen und Gedanken», so Harari. «Und genau die gleiche Art von Algorithmen steuert Schweine, Paviane, Otter und Hühner.»
In diesem Weltbild haben Begriffe wie Seele, Geist, Individualität und freier Wille keinen Platz mehr. Der Humanismus der Aufklärung hat ausgedient, genauso wie die Einzigartigkeit eines jeden Menschen. «Glaubt man der herrschenden wissenschaftlichen Lehre, so ist alles, was ich erlebe, Ergebnis elektrischer Aktivitäten in meinem Gehirn, und es sollte deshalb theoretisch möglich sein, eine vollkommen virtuelle Welt zu simulieren, die ich nicht von der realen Welt unterscheiden kann», so Harari.
Weshalb aber ist es dem Homo sapiens gelungen, sich die Welt untertan zu machen? Weil er über einen ganz besonderen Algorithmus verfügt. Er ist imstande, «auf sehr flexible Weise mit unzähligen Fremden zu kooperieren», sagt Harari. «Diese ganz konkrete Fähigkeit – und nicht eine unsterbliche Seele oder irgendeine einzigartige Form von Bewusstsein – erklärt unsere Herrschaft über den Planeten Erde.»
Im traditionell humanistischen Weltbild sind Religion und Wissenschaft natürliche Feinde. Bei Harari werden sie zu Verbündeten, denn eine Religion ist nichts anderes als ein Bündel von Erklärungen für unsere Gesellschaft. Diese Eigenschaft wird sehr gefragt werden.
«Im 21. Jahrhundert werden wir wirkmächtigere Fiktionen und totalitärere Religionen als jemals zuvor schaffen», prophezeit Harari. «Mit Hilfe von Biotechnologie und Computeralgorithmen werden diese Religionen nicht nur jede Minute unseres Daseins kontrollieren, sondern auch in der Lage sein, unseren Körper, unser Gehirn und unseren Geist zu verändern sowie durch und durch virtuelle Welten zu erschaffen. Es wird deshalb immer schwieriger, aber auch immer wichtiger werden, Fiktion und Wirklichkeit sowie Religion und Wissenschaft auseinanderzuhalten.»
Ohne Religion, die der Welt einen Sinn gibt, wird der wissenschaftliche Fortschritt zu einer Gefahr. «Vor uns sehen wir, zum Greifen nahe, die Allmacht, doch unter uns gähnt der Abgrund des völligen Nichts», so Harari. «Auf praktischer Ebene besteht das moderne Leben aus einem ständigen Streben nach Macht in einem Universum ohne Sinn.»
Diese Entwicklung wird zur tödlichen Gefahr für den Liberalismus. «Die siegreichen liberalen Ideale drängen die Menschheit nun dazu, nach Unsterblichkeit, Glück und Göttlichkeit zu streben», stellt Harari fest. (...) Wenn Gentechnik und künstliche Intelligenz ihr volles Potenzial entfalten, könnten Liberalismus, Demokratie und freie Märkte genauso obsolet werden wie Feuersteinklingen, Musikkassetten, der Islam und der Kommunismus.»
Auch der freie Wille wird im Zeitalter der Biowissenschaften endgültig zur Illusion. Der von Algorithmen gesteuerte Mensch wird berechenbar. «Heute können wir mit Hilfe von Gehirnscannern die Wünsche und Entscheidungen von Menschen vorhersagen, bevor sie sich dieser überhaupt nur bewusst sind», stellt Harari fest. Das hat gravierende Konsequenzen: «Wenn es Organismen tatsächlich an einem freien Willen fehlt, dann bedeutet das, dass wir unsere Wünsche mit Hilfe von Medikamenten, Gentechnik oder direkter Gehirnstimulation manipulieren und sogar kontrollieren könnten.»
Menschen können nicht nur manipuliert und kontrolliert werden, sie werden auch überflüssig und durch Roboter und intelligente Software ersetzt. «Menschen stehen in der Gefahr, ihren ökonomischen Wert zu verlieren, weil sich Intelligenz vom Bewusstsein abkoppelt» so Harari. Und: «Die Vorstellung, die Menschen würden immer über eine einzigartige Fähigkeit verfügen, die für nicht-bewusste Algorithmen unerreichbar ist, ist reines Wunschdenken.»
Konsequent zu Ende gedacht bedeutet dies: Es besteht die reale Möglichkeit, dass eine «nutzlose Klasse» entsteht, ein Heer von Menschen, die nicht mehr gebraucht werden. (Diese Dystopie wird im Übrigen von verschiedenen anderen Vordenkern geteilt.) Auch Entscheidungen werden zunehmend von intelligenten Systemen übernommen, weil sie viel weniger Fehler machen als das menschliche Gehirn. «Die neuen Technologien des 21. Jahrhunderts könnten somit die humanistische Revolution rückgängig machen, indem sie die Menschen ihrer Macht berauben und stattdessen nicht-menschliche Algorithmen damit betrauen», schreibt Harari.
Schliesslich ist es denkbar, dass eine kleine Elite entsteht, die mithilfe von künstlicher Intelligenz die Massen beherrschen kann. Harari glaubt, dass die Voraussetzungen für einen Techno-Faschismus der übelsten Sorte vorhanden sind:
Das «Internet der Dinge» ist eine Welt, die sich mit intelligenter Software mehr oder weniger autonom steuert. Diese Welt ist ein riesiges Datenverarbeitungssystem, in welcher der Mensch lediglich ein Instrument war, sie zu erschaffen. «Dieses kosmische Datenverarbeitungssystem wäre dann wie Gott. Es wird überall sein und alles kontrollieren, und die Menschen sind dazu verdammt, darin aufzugehen.» Nicht wirklich eine reizvolle Perspektive. Vielleicht sollten wir uns ernsthaft überlegen, wie wir Humanismus und Liberalismus retten können.