Bei Macrons Siegesfeier vor dem Louvre ertönte nicht die Marseillaise, sondern die Europa-Hymne, Beethovens «Ode an die Freude». Aus Berlin liess derweil Bundeskanzlerin Angela Merkel übermitteln, dieser Sieg sei ein Zeichen für ein «starkes und vereinigtes Europa».
So weit so gut. Doch wie ein Kuchen schmeckt, weiss man bekanntlich erst, wenn man ihn verzehrt. Mit guten Vorsätzen allein wird Europa nicht wieder auf die Beine kommen.
Europa braucht Reformen, und der neue französische Präsident hat auch sehr konkrete Vorstellungen, wie diese Reformen auszusehen haben. Er plädiert für ein gemeinsames Budget der Eurozone, einen gemeinsamen Finanzminister, eine richtige Bankenunion und Eurobonds. Mit anderen Worten: Er will ein Europa, das einer grossen Schweiz ähnlich wird, indem es eine gemeinsame Wirtschaftspolitik und einen Ausgleich unter den Regionen gibt.
All diese Dinge sind rote Tücher für eine Mehrheit der deutschen Ökonomen, den Ordoliberalen. Ihr Credo lautet: Jedes Land hat bei sich selbst für Ordnung zu sorgen. Die Eurozone soll deshalb organisiert sein wie ein gut bürgerliches Quartier: Man leiht sich gegenseitig gelegentlich einen Liter Milch aus oder füttert die Katze, wenn der Nachbar in die Ferien fährt. Sonst jedoch ist jeder seines eigenen Glückes Schmied.
Die Mehrheit der internationalen Ökonomen verfolgt eine andere Doktrin. Sie besagt, dass der Handel der Länder untereinander einen grossen Einfluss auf die wirtschaftlichen Beziehungen hat. Chronische Überschüsse eines Landes zerstören das Gleichgewicht und sollten daher vermieden werden.
Der Streit entzündet sich ob den deutschen Exporten. Sie haben inzwischen ein gigantisches Ausmass erreicht und betragen rund acht Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Für die meisten nicht-deutschen Ökonomen ist dies jenseits der ökonomischen Vernunft. Ob IWF oder Weltbank, ob Amerikaner oder Franzosen: Alle fordern die Deutschen seit Jahren inbrünstig dazu auf, mehr zu investieren und mehr zu konsumieren, um das bestehende Ungleichgewicht wenigstens zu vermindern.
Das gilt vor allem auch innerhalb der Eurozone. Die deutsche Wirtschaft profitiert vom gemessen an ihrer Potenz viel zu schwachen Eurokurs und erschlägt damit die französische, italienische und spanische Konkurrenz, von Griechenland und Portugal gar nicht zu sprechen. Für die Länder des Südens sind die deutschen Exporterfolge de facto ein Raubzug auf ihre Arbeitsplätze.
Die deutschen Ordoliberalen sehen das ganz anders. In ihren Augen sind die Exporterfolge ein Zeichen dafür, dass sie mit dem harten Reformprogramm Agenda 2010 ihre Hausaufgaben gemacht und jetzt die Früchte davon geniessen können. Sie stellen sich auf den Standpunkt: Macht es wie wir – und alles wird gut.
Macrons Forderungen stossen deshalb bei den Ordoliberalen auf keinerlei Begeisterung. Typisch die Reaktion ihres führenden Vertreters, Hans-Werner Sinn: «Macrons Pläne führen zu einer Transferunion, in der die reichen Länder die armen im Süden am Leben erhalten würden», schimpfte er in der «Sonntags Zeitung». «Die südeuropäischen Länder müssten aber Reformen durchführen, um wettbewerbsfähiger zu werden.»
Der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble ist der politische Kopf des Ordoliberalismus. Für ihn ist die «schwarze Null» – ein ausgeglichenes Staatsbudget – das höchste Ziel. Er gilt als Vater der Austeritätspolitik, die seit Jahren die europäische Wirtschaft bestimmt. Ausserhalb von Deutschland hat das verheerende Folgen: hohe Arbeitslosigkeit vor allem bei der Jugend und anämisches Wirtschaftswachstum. Schäuble ist damit das personifizierte Gegenprogramm zu Macron.
Obwohl die Austeritätspolitik als gescheitert gilt und immer mehr zur Gefahr für die europäische Einheit wird, hat Schäuble daran eisern festgehalten. Doch es gibt Hoffnung: Selbst in Deutschland werden allmählich Zweifel am Exportwahn laut. Sowohl Aussenminister Sigmar Gabriel wie auch der ehemalige Aussenminister Joschka Fischer plädieren dafür, auf die Forderungen Macrons zumindest einzugehen.
Zudem ist Frankreichs Wirtschaft besser als ihr Ruf. Es ist unbestritten, dass zehn Prozent Arbeitslosigkeit nicht zu verantworten sind, doch in Sachen Produktivität gehört die französische Wirtschaft weltweit zu den besten. Sie kann davon profitieren, dass selbst in der Eurozone die Konjunktur langsam in Fahrt kommt.
Der neue Präsident hat daher gute Chancen, sein ehrgeiziges Ziel zu erreichen: Gleichzeitig mit sanften Reformen die eigene Wirtschaft anzutreiben und mit geschicktem Verhandeln die Deutschen zu einer Abkehr ihrer Austeritätspolitik zu bewegen. Dazu muss allerdings Angela Merkel ihren Finanzminister Schäuble in Rente schicken – spätestens nach den Wahlen im September.