Frankreich ist ein seltsames Land. Man bewundert seine Kultur und Kreativität, die Eleganz seiner Sprache und seiner Menschen. Und man nervt sich über den Eigensinn, ja die Sturheit der Gallier. Der grösste Politiker der Grande Nation im 20. Jahrhundert drückte es so aus: «Wie kann man ein Land regieren, in dem es 246 verschiedene Käsesorten gibt?»
Also sprach Charles de Gaulle in einem Interview mit dem Magazin «Newsweek». Selbst der verehrte General, Organisator des Widerstands im Zweiten Weltkrieg und erster Präsident der fünften Republik, verzweifelte manchmal an seinen Landsleuten. Als sie ihm 1969 bei einer Abstimmung über ein eher zweitrangiges Thema die Gefolgschaft verweigerten, trat er kurzerhand zurück.
Nun hatte de Gaulle natürlich nicht recht: Es gibt in Frankreich weit mehr als 1000 Käsesorten. Die Kulinarik ist ein weiterer Trumpf dieses Landes, auch wenn die Zeiten vorbei sind, in denen man selbst in unscheinbaren Restaurants auf dem Land ein tolles Menü auf den Tisch gezaubert erhielt. In mancher Hinsicht ist Frankreichs Grandeur heute nur noch wehmütige Erinnerung.
Den Französinnen und Franzosen ist dies mehr als bewusst. Sie beklagen den Stillstand, das Malaise ihrer Nation, die wirtschaftlich vor sich hin dümpelt. Eine Morosité liegt über dem Land, eine Verdrossenheit mit der Elite. Sie hat sich in der Präsidentschaftswahl entladen. Die Stichwahl erreichten zwei Bewerber, die ausserhalb der klassischen Parteistrukturen antraten.
Gewonnen hat am Ende der Favorit: Emmanuel Macron wird in den Elysée-Palast einziehen. Eine Überraschung war dies am Ende nicht mehr, trotz des Sabotageangriffs in letzer Minute. Sein Sieg war sogar deutlicher als erwartet. Spätestens seit dem gehässigen Fernsehduell gegen Marine Le Pen stand er so gut wie fest. Macron hielt den Attacken und Beleidigungen stand, die seine Rivalin mit ihrem heuchlerischen Christoph-Mörgeli-Grinsen vortrug.
Man fragt sich immer noch, was die Chefin des Front National damit beabsichtigte. Marine Le Pen bemühte in keinster Weise, Wählerinnen und Wähler aus der politischen Mitte zu gewinnen, die sie für einen Erfolg benötigte. Sie gebärdete sich wie Donald Trump. Aber Frankreich ist nicht die USA. Ein Staatsoberhaupt muss präsidial wirken, nicht auf Krawall gebürstet sein.
Emmanuel Macron erfüllt die Anforderungen, trotz seiner erst 39 Jahre, und obwohl er zuvor nie für ein gewähltes Amt kandidiert hatte.
Natürlich profitierte er von der Schwäche seiner Gegner. Der Konservative François Fillon wäre ohne seinen schamlosen Nepotismus vermutlich Präsident geworden. Benoît Hamon, der Kandidat der Sozialisten, war ein hoffnungsloser Fall. Die Ideen von Jean-Luc Mélenchon bewegten sich zwischen Utopie und Unsinn. Das Programm von Marine Le Pen war absurd bis gefährlich.
Es sagt einiges aus über den Zustand des Landes, dass im ersten Wahlgang mehr als 40 Prozent für Kandidaten stimmten, die das Blaue vom Himmel herunter versprachen. Oder das Land noch näher an den Abgrund geführt hätten, wenn nicht darüber hinaus. Eine Nation, die sich in ihre Grenzen verkriecht, wie es der Front National propagiert, kann niemals gross sein.
Darin zeigt sich der Frust über Jahre des politischen Stillstands. Es begann schon in der zweiten Amtszeit von Jacques Chirac ab 2002. Dessen Nachfolger Nicolas Sarkozy hatte eine grosse Klappe, wagte sich aber nicht an einschneidende Reformen. Und François Hollande war ein Zauderer, der den Konflikt mit den Staatsgläubigen in seiner Sozialistischen Partei scheute.
Die Zeit in Frankreich war reif für eine neue Revolution, getreu dem Bonmot, wonach die Franzosen lieber Revolutionen haben als Reformen.
Ohne Reformen aber findet die Republik nicht aus dem Malaise. Ist Emmanuel Macron der Richtige dafür? In seinem Programm bleibt vieles unscharf. Ebenso unklar ist, ob er mit seiner Partei «En Marche» bei der Parlamentswahl im Juni eine tragfähige Mehrheit für seine Politik erhalten wird, allenfalls in einer Koalition mit den rechten Republikanern.
Viel scheint man dem neuen Präsidenten nicht zuzutrauen. An Unkenrufen bereits nach dem ersten Wahlgang fehlte es nicht, auch in den Schweizer Medien. Als schwacher Präsident wurde Macron apostrophiert, der fast nur scheitern könne. Die Schwarzmaler liegen falsch. Emmanuel Macron hat im Gegenteil eine grosse Chance. Er muss sie nur nutzen.
Diese Chance trägt den Namen Marine Le Pen. Scheitert Präsident Macron wie seine Vorgänger, wird ihr Durchmarsch in fünf Jahren kaum zu verhindern sein. Le Pen ist seine «Geheimwaffe», um Reformen durchzusetzen, im Inland und in Europa. Macron ist ein überzeugter Europäer, er hat jedoch klar gemacht, dass er die desaströse Austeritätspolitik in der Eurozone beenden will.
In Deutschland wird man das nicht gerne hören, doch mit dem «Beelzebub» Le Pen kann er Kanzlerin Angela Merkel die sparwütige «schwäbische Hausfrau» austreiben. Einen Fürsprecher hat er in Joschka Fischer, der gewohnt scharfsinnig in der «Süddeutschen Zeitung» gefordert hat, Berlin müsse nach der Bundestagswahl im Herbst «endlich über seinen Schatten springen».
Fischer erinnerte daran, dass im ersten Wahlgang fast die Hälfte der französischen Wähler europafeindlichen Kandidaten ihre Stimme gegeben hätten. «Allzu oft hält die EU solche Wahlergebnisse nicht mehr aus», folgerte der ehemalige grüne Aussenminister.
Man kann einwenden, dass die Le-Pen-Keule kein positives Narrartiv ist, um Frankreich auf Kurs zu bringen. Doch der Zustand der Republik ist nicht so schlecht, wie sie sich oft selber sieht. Frankreich verfügt über eine lebhafte Startup-Szene. Der einst fast totgesagte Autokonzern PSA Peugeot Citroën sorgte kürzlich mit der Übernahme der deutschen GM-Tochter Opel für Furore.
Natürlich ist es nicht leicht, die Banlieue und den industriell ausgepowerten Norden auf Vordermann zu bringen oder die grassierende Jugendarbeitslosigkeit zu bekämpfen, insbesondere nach den Versäumnissen der letzten Jahrzehnte. Der «Economist» gibt Macron dennoch eine gute Perspektive: Obwohl sein Programm arm an Details sei, biete es «Reformen, Realismus und die Chance für ein dynamischeres Frankreich».
Präsident Emmanuel Macron ist nicht zu beneiden. Er hat als «Aussenseiter» den Elysée-Palast erobert und muss nun wie Herkules den Augiasstall ausmisten. Man hat ihn auch den «französischen Obama» genannt. Im Unterschied zum Amerikaner, der die völlig überrissenen Hoffnungen kaum erfüllen konnte, sind die Erwartungen in seinem Fall tief. Auch das ist eine Chance für Macron.
Versagt er jedoch, haben Frankreich und Europa ein grösseres Problem als die 246 Käsesorten von Charles de Gaulle.