60 Prozent der Tierarten sind in den letzten 50 Jahren verschwunden. Ist es also gerechtfertigt, von einem sechsten Massensterben zu sprechen?
Ja, heute sterben 100 bis 1000 Mal mehr Arten aus als in vergangenen Zeiten. Das ist einmalig – und wir Menschen sind die Ursache. Der Living Planet Index des WWF untersucht die Populationstrends und zeigt so Veränderungen sehr früh an.
Ist dieses Massensterben nicht mehr aufzuhalten?
Die kurze Antwort lautet: doch. Taucht man tiefer in die Daten ein, dann zeigt sich, dass es grosse regionale Unterschiede gibt. In Lateinamerika ist der Rückgang am stärksten. In anderen Regionen konnte der Trend gar umgedreht werden. Das gilt auch für einzelne Arten. Bei Tigern, Pandabären und diversen Walarten sehen die Zahlen wieder besser aus.
Der Artenrückgang in Lateinamerika betrifft Frösche und Insekten und verschiedenste Pflanzenarten, die oft auf kleinstem Raum vorkommen. Etwas salopp ausgedrückt kann man sagen: Wen kümmert das?
Es gibt keine wichtigen oder unwichtigen Arten. Das Bewusstsein, dass ein Ökosystem kollabieren kann, wenn einzelne Elemente wegbrechen, ist heute vorhanden. Die Artenvielfalt ist kein Luxusproblem. Das haben die Menschen begriffen.
Wenn es um Tiger oder Pandabären geht. Aber gilt dies auch für Insekten?
Unsere wichtigsten Nahrungspflanzen sind auf die Bestäubung durch Insekten angewiesen. Darum sollte uns das sehr wohl kümmern.
Der Weltklimarat hat kürzlich einmal mehr vor den dramatischen Folgen des Klimawandels gewarnt. Gibt es einen Zusammenhang zwischen Klimaerwärmung und Massensterben?
Auf jeden Fall. Heute haben wir auch viel präzisere wissenschaftliche Grundlagen, die das beweisen. Und der Klimawandel kommt zu bestehenden Bedrohungen wie der Zerstörung von Lebensräumen und der Übernutzung hinzu und verschlimmert so die Situation erheblich.
Der Weltklimarat spricht von einer Erwärmung von 1,5 Grad Celsius. Ist das so dramatisch?
Ja. Bei einer Erwärmung von 2 Grad gehen beispielsweise praktisch alle Korallen dieser Welt zugrunde. Korallen sind so etwas wie die Urwälder der Meere. Sie sind enorm wichtig für die Artenvielfalt.
Die Warnungen vor Massensterben und Klimawandel sind nicht mehr ganz jung. Bücher wie «Kollaps» von Jared Diamond wurden vor mehr als zehn Jahren Bestseller. Sind wir Menschen unbelehrbar?
Nein, aber es ist entscheidend aufzuzeigen, dass wir nicht machtlos sind. Das Artensterben kann gestoppt und teilweise rückgängig gemacht werden. Was mich persönlich optimistisch stimmt, ist die Tatsache, dass die Wirtschaft begriffen hat, wie bedeutsam funktionierende Ökosysteme für sie sind. Auch die Politik ist aufgewacht. Es gibt heute eine Dynamik, wie es sie vor zehn Jahren noch nicht gegeben hat.
Trump ist aus dem Pariser Klimaabkommen ausgestiegen, in Brasilien kommt ein Präsident an die Macht, der wieder rücksichtslos den Urwald abholzen will. Haben Sie nicht eine zu rosarote Brille auf?
Schauen wir mal die USA unter Trump genauer an: Der Verbrauch an Kohle zur Elektrizitätsproduktion ist weiterhin rückläufig, obwohl Trump mit dem Versprechen antrat, den Trend zu kehren. Wegen des Rücktritts vom Pariser Abkommen ist in Amerika die stärkste Klimabewegung entstanden, die es im Land je gegeben hat. Es wird kein Zurück zu früher geben, vor allem, weil die Wirtschaft das nicht mehr will.
Ist es nicht sogenanntes Greenwashing – Sand in die Augen gestreut – wenn der WWF gemeinsame Sache macht mit Unternehmen wie Ikea?
Wir vereinbaren mit den Firmen, mit denen wir zusammenarbeiten, ganz konkrete Ziele. Jährlich werden diese Ziele überprüft und die Resultate publiziert. Ein Unternehmen wie Ikea hat sich in den letzten Jahren grundsätzlich verändert. Es geht nicht mehr darum, am Rande auch noch ein bisschen Umweltschutz zu betreiben. Das Kerngeschäft wird umgekrempelt. Ikea hat sich beispielsweise verpflichtet, nur noch Holz, Baumwolle oder Fische und Meeresfrüchte aus zertifizierten nachhaltigen Quellen zu beziehen. Neue Geschäftsmodelle werden ausprobiert: Rückkauf von alten Möbeln, das Vermieten von Möbeln, die Läden stehen nicht mehr auf der grünen Wiese, sondern in der Stadt etc.
Schön und gut. Aber reichen kleine Schritte? Braucht es nicht radikale Massnahmen? Der ehemalige Greenpeace-Chef Paul Gilding fordert gar einen Dritten Weltkrieg gegen die Umweltzerstörung.
Wenn in knapp 50 Jahren 60 Prozent der Populationen von Wirbeltieren verschwinden, dann ist das dramatisch, keine Frage. Kleine Schritte werden nicht genügen. Wir vom WWF fordern daher, dass die bestehenden Geschäftsmodelle überprüft und in Frage gestellt werden. Zum Glück sehen wir, dass führende Unternehmen angefangen haben, genau dies zu tun.
Kreislauf-Ökonomie ist das Gebot der Stunde.
Es wird nicht nur darüber gesprochen, es wird auch umgesetzt, und vor allem werden die Resultate gemessen. Apple hat kürzlich verkündet, dass sie eine hundertprozentige Kreislauf-Ökonomie anstreben, will heissen, dass alles in ihren Geräten rezykliert wird. Apple hat dabei zugegeben, dass sie noch weit davon entfernt sind, dieses Ziel zu erreichen, aber sie haben sich dazu verpflichtet. Fortan werden sie daran gemessen werden.
Wo sehen Sie weitere Anzeichen eines Gesinnungswandels?
Beispielsweise beim Fleischkonsum.
Wieso? Weltweit steigt er immer noch.
In einzelnen Regionen sieht es anders aus. In den USA und in Europa ist der Höhepunkt überschritten. Selbst die Chinesen essen weniger Fleisch. Das hat niemand so erwartet.
Wie erklären Sie diese Verhaltensänderung?
Erstens haben die Menschen erkannt, dass übermässiger Fleischkonsum ungesund ist, und zweitens sind auch die Folgen für die Umwelt ins Bewusstsein gedrungen. Wenn wir den Fleischkonsum auf ein Mass zurückschrauben, dann haben wir nicht nur unserer Gesundheit, sondern auch unserer Umwelt sehr viel Gutes getan.
Was heisst das konkret?
In der Schweiz müssten wir unseren Fleischkonsum nur schon aus Gesundheitsüberlegungen pro Kopf etwa halbieren. Zum Glück sehen wir, dass gerade junge Menschen deutlich weniger Fleisch essen.
Auch politisch bewegt sich was. Die Grünen sind mächtig im Kommen.
Wir verlassen uns nicht auf die politischen Zyklen. Sie können rasch ändern. Was wir hingegen mit Genugtuung beobachten, ist die Tatsache, dass Umweltanliegen je länger umso weniger in ein Links-Rechts-Schema passen.
Auch Freisinnige dürfen heute Velofahren, ohne beschimpft zu werden.
In Klima- und Umweltfragen zeichnet sich in vielen Ländern ein breiter Konsens ab. In Grossbritannien beispielsweise haben alle Parteien vor den Wahlen ein identisches Papier zum Klimaschutz unterzeichnet. In der Schweiz sind wir leider noch nicht so weit.
Bei uns sind paradoxerweise die Städte grüner als das Land.
Das hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass sich Trends oft zuerst in den Städten abzeichnen. Aber auch in der Landwirtschaft ist vieles in Bewegung geraten. Das grosse Wachstum findet im Biobereich statt.
Industrielle Landwirtschaft ist der grösste Sünder, wenn es um Biodiversität geht. Ist Agri-Tech, der Einsatz von digitaler Technologie in der Landwirtschaft, die Lösung? Oder müssen wir zurück zur reinen Bio-Landwirtschaft?
Eine Kombination von beidem. Der Bio-Trend ist weltweit zu beobachten. Er wird weiter zulegen, weil er einem starken Bedürfnis von Konsumentinnen und Konsumenten entspricht. In der konventionellen Landwirtschaft können wir beobachten, dass der Einsatz von Dünger und Pestiziden dank Hi-Tech drastisch vermindert werden kann. Einsparungen von 80 Prozent und mehr sind möglich, wenn Dünger und Pestizide punktgenau eingesetzt werden. Deshalb überlegen sich auch die Pestizid-Hersteller neue Geschäftsmodelle. Sie werden in Zukunft ihr Geld nicht mit dem Verkauf von möglichst viel Ware verdienen, sondern mit Beratung.
Die industrielle Landwirtschaft macht auch Lebensräume kaputt. Hecken verschwinden, alte Bäume werden abgeholzt. Was kann man dagegen tun?
In dieser Hinsicht ist das Umdenken noch zu wenig ausgeprägt. Die vom Bund gesetzten Umweltziele in der Landwirtschaft sind samt und sonders verpasst worden. Dabei ist es auch für die Landwirtschaft langfristig sehr wichtig, dass das Bild «Bauern gleich Biodiversitätskiller» verschwindet. Auf diesem Gebiet können wir noch sehr viel verbessern.
Der Harvard-Psychologe Steven Pinker vertritt immer wieder die These: Den Menschen ist es noch nie so gut gegangen wie heute. Was ist davon zu halten?
Pinker weist auf etwas Wichtiges hin, nämlich die Tatsache, dass es viele Bereiche gibt, in denen das Leben besser geworden ist. Das hat sich noch viel zu wenig herumgesprochen. So nehmen die wenigsten Menschen zur Kenntnis, dass die extreme Armut weltweit stark zurückgegangen ist. Oder viele Menschen glauben immer noch, Solarenergie sei wahnsinnig teuer.
Ist damit doch alles im grünen Bereich?
Nein, aber es zeigt, dass wir Menschen die Fähigkeit haben, auch scheinbar unlösbare Probleme zu lösen. Das gilt auch für die Probleme der Biodiversität. Der Wildfang von Fischen beispielsweise ist zurückgegangen. Aber das heisst keineswegs, dass diese Probleme nicht existieren.
Es gibt nicht nur immer mehr Menschen, sie werden auch immer älter. Kann der Planet Erde diese Herausforderung verkraften?
Wichtig ist, dass wir unser Konsumverhalten überprüfen. Müssen wir wirklich einen Drittel unserer Nahrung wegwerfen? Was ist mit dem Fleischkonsum? Was mit den Kleidern? Muss die Schweiz ein Vielfliegerland sein? Wir können gut auf diesem Planeten leben, wenn wir Ressourcen vernünftig nutzen.
Braucht es tiefe Einschnitte in unserem Verhalten?
Ja, aber zum Glück können wir Anzeichen davon bereits beobachten. In Deutschland beispielsweise ist die Anzahl der Menschen zwischen 17 und 25, die einen Fahrausweis haben, um einen Viertel zurückgegangen. Und selbst die Autofahrer fragen sich: Brauche ich ein eigenes Fahrzeug, das 95 Prozent der Zeit herumsteht?
Kurz: Wir haben es in der Hand, das sechste Massensterben abzuwenden?
Absolut. Das ist keine Behauptung. Wir haben die Daten, die das beweisen.