Der Boom an den globalen Aktienbörsen steht im zehnten Jahr und noch immer wollen viele Beobachter nicht glauben, dass die Hausse bald zu Ende gehen könnte. «Keine Panik», lautete gestern unter Bankanalysten das dominierende Credo, als die Kurse im Sog der Wall Street an den europäischen Börsen heftig ins Rutschen gerieten. Selbst der dritte grössere Kurseinbruch im laufenden Jahr scheint den Investmentstrategen die Zuversicht nicht zu nehmen.
Etwas mehr Vorsicht als in früheren Zeiten ist dennoch auszumachen – mit gutem Grund: Der Internationale Währungsfonds (IWF) hat diese Woche zum ersten Mal seit drei Jahren seine Wachstumsprognose für die Weltwirtschaft nach unten korrigiert. Die Anpassung um minus 0.2 Prozent sieht zwar eher kosmetisch aus, zumal das Wachstum im kommenden Jahr mit den erwarteten 3.7 Prozent immerhin gleich hoch bleiben soll wie im laufenden Jahr und im Jahr davor. Doch die IWF-Ökonomen betonen die Risiken ihrer eigenen Prognose deutlicher. Der Handelsstreit zwischen den USA und China ist in vollem Gang – mit offenem Ausgang.
Eine Verschärfung des Konflikts würde die Wachstumsperspektiven stark beeinträchtigen, glauben nicht nur die IWF-Ökonomen. Längerfristig seien die konjunkturellen Risiken umso grösser, als viele Länder kaum Möglichkeiten besässen, im Bedarfsfall mit geldpolitischen oder fiskalischen Massnahmen Gegensteuer zu geben. Das Verschuldungsniveau ist in den meisten alten Industrieländern so hoch, dass Geld für steuerliche Anreize oder staatliche Konjunkturprogramme zur Ankurbelung der Wirtschaft fehlt. Auch den Notenbanken sind vielerorts die Hände gebunden. In Europa und in Japan bewegen sich die Leitzinsen am Nullpunkt oder gar darunter. Impulse aus dieser Ecke sind deshalb nicht zu erwarten, falls sie abermals nötig werden.
Das sind die Gründe, die Vorsicht nähren, aber für verbreiteten Pessimismus sind sie offensichtlich nicht stark genug: «Bei allen Gefahren für die Weltwirtschaft gehen wir weiterhin von einer wirtschaftlichen Expansion aus, die ausreichend stark ist, um die Finanzmärkte zu stützen», kommentierte gestern Karsten Junis, Chefökonom der BaPrivatbank J. Safra Sarasin, stellvertretend für viele seiner Berufskolllegen.
Doch in der kurzen Sicht lassen sich die Börsen den Takt nicht zwingend von der Konjunktur vorgeben. Eine zentrale Rolle spielen Bewertungsfragen. Je höher der Preis einer Aktie, desto höher ist das Rückschlagrisiko. Mit dem Kursanstieg einiger weniger Technologieaktien ist dieser Aspekt an der Wall Street in den Vordergrund gerückt. Der Marktwert der FAANG-Aktien, eine Bezeichnung, die für die Highflyer der vergangenen Jahre (Facebook, Amazon, Apple, Netflix und Google bzw. Alphabet) steht, hat unter Einschluss von Microsoft einen Anteil von 15 Prozent an der Gesamtkapitalisierung des US-Aktienmarktes erreicht. Das Gewicht der FAANG-Titel ist mehr als doppelt so hoch wie vor fünf Jahren.
Für den Zürcher Vermögensverwalter Alex Hinder ist das eine «ungesunde Entwicklung». Die Kursaufschläge dieser Aktien basieren auf der Erwartung der Anleger, dass diese Firmen mit ihren monopolähnlichen Marktpositionen über Jahre hinaus hohe Gewinnwachstumsraten ausweisen. Solche Projektionen haben sich in der Vergangenheit immer wieder als überzogen erwiesen, gibt Hinder zu bedenken.
Er verweist auf die frühen 1970er-Jahre, als sich die Investoren um die sogenannten «Nifty Fifty»-Aktien wie IBM oder Xerox rissen. Auch die Technologieblase der Jahrtausendwende wies das gleiche Muster auf. Sowohl nach dem Nifty-Fifty-Boom als auch nach dem letzten Technologieboom gingen die Börsen längere Zeit auf Tauchstation. An eine Flaute wie damals mag Hinder mit Blick auf die sehr guten konjunkturellen Perspektiven nicht glauben. Aber die Erfahrung lehrt ihn, dass für die Investoren garstige Zeiten angebrochen sein könnten.