Ende März erschien in der Fachzeitschrift «Archives of Sexual Behaviour» (ASB) eine Studie unter dem Titel «Rapid Onset Gender Dysphoria: Parent Reports on 1655 Possible Cases». Es handelte sich um die bisher erst zweite grössere wissenschaftliche Arbeit, die Rapid Onset Gender Dysphoria (ROGD) als neu auftretendes Phänomen postulierte.
Das Paper stiess auf heftigen Widerspruch. Nach Protesten von Wissenschaftlern und Trans-Aktivisten zog der Verlag Springer Nature, zu dem ASB gehört, die Studie schliesslich zurück.
I have just been notified that my paper with Suzanna Diaz will be retracted by the publisher due to concerns about lack of informed consent. This paper: https://t.co/OKZooeTAEG
— Michael Bailey (@profjmb) May 23, 2023
Der Vorgang wirft ein Schlaglicht auf eine wissenschaftliche Debatte, die zunehmend erbittert geführt wird – wie nahezu jede Debatte, die sich um Themen wie Gender und Trans-Identität dreht. Darüber hinaus zeigt das Schicksal der ROGD-Studie aber auch, wie ideologische und politische Motive in die wissenschaftliche Diskussion eindringen und umgekehrt wissenschaftliche Erkenntnisse politisch instrumentalisiert werden.
Zunächst gilt es, den Begriff «ROGD» zu klären. Das Akronym steht für «Rapid Onset Gender Dysphoria», zu Deutsch etwa «plötzlich einsetzende Genderdysphorie». Es handelt sich nicht um eine offiziell anerkannte klinische Diagnose; weder im Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-5) noch in der International Classification of Diseases (ICD) ist der Begriff aufgeführt. Derzeit ist ROGD nicht mehr als eine – allerdings heftig umstrittene – Hypothese.
Genderdysphorie an sich wird seit Längerem erforscht; ihr Vorkommen wird nicht bestritten. Sie tritt auf, wenn das biologische Geschlecht einer Person nicht mit ihrer gefühlten Geschlechtsidentität übereinstimmt (Geschlechtsinkongruenz) und die Person fortdauernd darunter leidet. Geschlechtsinkongruenz selbst wird nicht als Störung betrachtet; erst wenn das wahrgenommene Missverhältnis zwischen dem Geburtsgeschlecht und der gefühlten Geschlechtsidentität zu erheblichem Leiden führt, gilt eine Diagnose der Genderdysphorie als angemessen. Die Ursachen der Genderdysphorie sind nicht geklärt; angenommen wird ein Zusammenspiel von biologischen und umweltbedingten Faktoren.
Die ROGD-Hypothese wurde zuerst 2016 in – von Gegnern der Hypothese als transfeindlich bezeichneten – Blogs vorgebracht, bevor sie die Verhaltensforscherin Lisa Littman 2017 erstmals in einem Aufsatz und im Jahr darauf in einer in der Online-Fachzeitschrift PLOS One veröffentlichten Studie vertrat. Littman definierte ROGD als ein plötzliches Auftreten von Geschlechtsdysphorie bei Jugendlichen oder jungen Erwachsenen, die in der Kindheit keine Anzeichen von Geschlechtsdysphorie gezeigt hatten. ROGD betreffe überwiegend bei Geburt weibliche Jugendliche.
Sie stellte die Hypothese auf, dass ROGD durch den sozialen Einfluss von Peergroups und die Nutzung sozialer Medien entstehen könnte, wobei zuvor oft andere psychische Störungen – etwa Depressionen – diagnostiziert wurden. Littman verglich dies mit der sogenannten sozialen Ansteckung bei Essstörungen wie Anorexia nervosa in jugendlichen Peergroups. Ähnlich wie Essstörungen oder selbstverletzendes Verhalten – die ebenfalls öfter bei weiblichen Jugendlichen vorkommen – könnte die geschlechtliche Transition zudem auch für viele Jugendliche eine Bewältigungsstrategie sein, um mit negativen Emotionen oder anderen vorliegenden psychischen Problemen umzugehen.
Während manche Eltern von trans Kindern im ROGD-Konzept eine beruhigende Erklärung für das aus ihrer Sicht sehr beängstigende Verhalten ihres Kindes finden, sehen Befürworter eines möglichst niederschwelligen Versorgungsangebots für transitionswillige Kinder und Jugendliche darin eine Gefahr. Die amerikanische Biologin und Trans-Aktivistin Julia Serano befürchtet beispielsweise, das Konzept ROGD liefere Eltern eine Begründung dafür, «das von Jugendlichen wahrgenommene und geäusserte Geschlecht nicht zu glauben und entsprechende Hilfe zu verweigern». Zudem liefere «es Argumente dafür, den Kontakt zu gleichaltrigen trans Jugendlichen und den Zugang zu transbezogenen Informationen einzuschränken».
Mit der Hypothese der sozialen Ansteckung erklärt das ROGD-Konzept die Tatsache, dass die Zahl der sich als trans identifizierenden Jugendlichen in den letzten Jahren deutlich zugenommen hat – Littman spricht von «Cluster-Ausbrüchen». Dem halten Kritiker entgegen, dass trans Jugendliche sich aufgrund der verminderten Repression heute eher outen. Allerdings kann dieses Argument die auffällige Verschiebung im Verhältnis der betroffenen Geschlechter nicht erklären: Während früher die bei Geburt männlichen genderdysphorischen Jugendlichen in der Überzahl waren, sind es heute stark überwiegend bei Geburt weibliche Jugendliche, die sich als trans identifizieren.
Viele Trans-Aktivisten, die nach wie vor für ihr Recht auf Anerkennung kämpfen, empfinden das ROGD-Konzept als beleidigend und verletzend. Die darin enthaltene Hypothese der sozialen Ansteckung kann in der Tat an homophobe und diskriminierende Diskurse über «Ansteckung» bei Homosexualität erinnern, die längst überwunden sein sollten.
Schon Littmans Studie war sofort auf harsche Kritik gestossen. Experten und Aktivisten verwiesen auf methodische Mängel, etwa die Tatsache, dass eine Kontrollgruppe fehlte und Littman lediglich die Eltern von trans Jugendlichen befragt hatte, nicht aber die Jugendlichen selbst oder deren Ärzte oder Therapeuten. Überdies hatte sie die Eltern über Websites rekrutiert, die angeblich eine transphobe Agenda verfolgten. Damit, so der Vorwurf, basiere ihre Stichprobe vollständig auf den Angaben transfeindlicher Eltern, die den Zustand ihrer Kinder nicht objektiv beurteilten.
Angesichts der Kritik zog Littmans Universität, die Brown University, ihre Pressemitteilung zurück. Littman überarbeitete darauf ihre Studie, wobei sie unter anderem Fragen des Studiendesigns und der Methodik klärte und insbesondere deutlich machte, dass es sich bei ROGD nicht um eine klinische Diagnose handelt. Die überarbeitete Studie erschien 2019 auf PLOS One, begleitet von einem Korrekturhinweis der Zeitschrift.
Gleichwohl verstummte die Kritik nicht; nach wie vor wurden Littman transphobe Motive unterstellt. So schrieb die Juristin und Bioethikerin Florence Ashley von der McGill University: «Der Begriff [ROGD] spiegelt den bewussten Versuch wider, eine wissenschaftlich klingende Sprache als Waffe einzusetzen, um die zunehmenden empirischen Beweise für die Vorteile einer Transition zu widerlegen.» In der Folge erschien eine ganze Reihe von Studien, die Littmans Papier zu widerlegen suchten. Littman selber verlor nach eigenen Angaben ihre Anstellung als Beraterin, nachdem andere Mitarbeiter ihre Kündigung aufgrund ihrer kontroversen Studie verlangt hatten. Dies, obwohl ihre Arbeit dort nichts mit dem Thema der Studie zu tun hatte.
Ähnliche Vorwürfe wurden auch gegen die neue, eingangs erwähnte Studie laut. Als Autoren dieses Papers firmieren Suzanna Diaz (ein Pseudonym), Mutter eines trans Kindes, die keinen akademischen Grad innehat, und J. Michael Bailey, Psychologie-Professor an der Northwestern University. Diaz und Bailey bestätigten in ihrer Studie im Grossen und Ganzen Littmans Ergebnisse. Die Stichprobengrösse ihrer Online-Umfrage war jedoch bedeutend grösser als jene in Littmans Studie. Bis Mitte Mai wurde das Paper von Diaz und Bailey mehr als 38'000-mal heruntergeladen.
Die Abfolge der Ereignisse, die zum Rückzug dieser Studie führten, soll hier nachgezeichnet werden:
Der Eifer von Springer Nature, eine Studie wegen einer geringfügigen Formalität zurückzuziehen, erstaunt umso mehr, als der Verlag dies in anderen Fällen offenbar tatsächlich nicht für notwendig hielt. Wie Colin Wright in einem Artikel im eher rechtsgerichteten «City Journal» über die Angelegenheit schreibt, dürften wohl Tausende von Springer Nature veröffentlichte Forschungsarbeiten die Kriterien nicht erfüllen, deren Einhaltung nun bei der Studie von Diaz und Bailey verlangt wurde.
ROGD ist lediglich eine Hypothese, zu der geforscht wird. Warum gibt es eine solche Vielzahl von Studien, die sich bemühen, diese Hypothese zu widerlegen – mit Verweis auf methodische, formale, aber auch inhaltliche Mängel der beiden erwähnten Forschungsarbeiten? Die Antwort darauf dürfte vermutlich darin liegen, dass die ROGD-Hypothese – sollte sie sich erhärten – einige Sprengkraft entwickeln könnte.
Warum ist das so? ROGD postuliert, dass es eine spät und plötzlich einsetzende Genderdysphorie ohne vorherige Anzeichen in der Kindheit gibt, dass sie stark überwiegend bei Jugendlichen vorkommt, die bei Geburt weiblich sind, und oft mit einer Vorgeschichte von psychischen Störungen korreliert. Der entscheidende Knackpunkt liegt aber in der Hypothese, es handle sich um eine neuartige psychische Störung, die durch Kohorten-Effekte und soziale Ansteckung entstehe und als maladaptiver Bewältigungsmechanismus für andere zugrunde liegende psychische Probleme dienen könne. Sollte dies zutreffen, würde sich ROGD grundlegend von den «klassischen» Fällen von Genderdysphorie unterscheiden, wie sie im DSM-5 dokumentiert sind.
Eine Genderdysphorie, die ähnlich wie eine Essstörung durch soziale Ansteckung, noch befeuert durch soziale Medien, entsteht, wäre höchstwahrscheinlich nicht dauerhaft. Dies würde die Diagnose einer Genderdysphorie zusätzlich erschweren, da diese hauptsächlich von Aussagen der betroffenen Personen über die Stärke ihrer Geschlechtsinkongruenz und des dadurch verursachten Leidensdrucks abhängt, die allerdings über mindestens sechs Monate hinweg konsistent sein müssen.
Dies wiederum würde die Frage aufwerfen, ob eine geschlechtsbejahende Behandlung (Gender-Affirming Treatment, GAT) wirklich in allen Fällen angezeigt ist. Diese hinterfragt den Wunsch nach Transition nicht; sie soll laut zahlreichen Studien zu einer besseren psychischen Gesundheit der Betroffenen führen. Insbesondere das deutlich erhöhte Suizidrisiko bei trans Jugendlichen soll damit verringert werden. GAT wird derzeit von vielen medizinischen Institutionen befürwortet. Dies gilt besonders für die USA, wo sie namentlich von der American Academy of Pediatrics (AAP), der World Professional Association for Transgender Health (WPATH) und der Endocrine Society empfohlen wird.
Dieser Gender-affirmierende Ansatz bei der Behandlung von Genderdysphorie umfasst allerdings ein weites Spektrum von Massnahmen: Sie reichen von der Beratung über Veränderungen im sozialen Verhalten über die Verabreichung von Medikamenten – etwa hormonähnlichen Substanzen (GnRH-Analoga; umgangssprachlich «Pubertätsblocker») zur Unterdrückung der Pubertät – bis hin zu chirurgischen Eingriffen, beispielsweise einer Mastektomie (chirurgische Entfernung der Brüste). Während der Effekt von Pubertätsblockern grundsätzlich reversibel ist, aber auch zum Teil noch weitgehend unerforschte irreversible Nebenwirkungen nach sich ziehen kann – etwa bei der Gehirnentwicklung –, sind chirurgische Eingriffe fast immer irreversibel.
Das Gender-Affirming Treatment beruht auf dem sogenannten Dutch Protocol, das in den Neunzigerjahren in den Niederlanden entwickelt wurde und seit mindestens einem Jahrzehnt von vielen Medizinern als Standard für die Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Geschlechtsdysphorie angesehen wird. In jüngster Zeit hat jedoch vornehmlich in Europa eine mehr oder minder vorsichtige Abkehr vom Dutch Protocol stattgefunden – selbst in den Niederlanden, wo es zuerst angewendet wurde.
So sagte 2021 Thomas Steensma vom Center of Expertise on Gender Dysphoria an den Amsterdam UMC, dass sich mittlerweile sehr viel mehr Kinder für Transgender-Betreuung anmeldeten als früher und darunter plötzlich viel mehr als Mädchen geborene. Es sei nicht klar, ob die Studien, die damals gemacht wurden, heute noch anwendbar seien. Mehr Forschung über Geschlechtsumwandlungen bei jungen Menschen unter 18 Jahren sei dringend erforderlich.
Tatsächlich gibt es Fälle, in denen eine frühe Behandlung – besonders wenn sie mit irreversiblen chirurgischen Eingriffen verbunden war – vermeidbare Schäden verursacht hat. Sogenannte Detransitioner, die ihre medizinische Transition später bereuen, belegen dies. Allerdings ist die Frage, wie viele solcher Fälle es gibt, heftig umstritten; belastbare Langzeitstudien dazu gibt es kaum. Das liegt auch daran, dass entsprechende Forschungsprojekte von manchen Trans-Aktivisten torpediert werden, da sie von transphoben Prämissen ausgingen. So sieht die Biologin und Trans-Aktivistin Julia Serano den Grund für die Befürchtung, dass sich cisgender Personen irrtümlich einer Transition unterziehen könnten, in der transphoben Sichtweise, dass transgender Körper beschädigt seien.
Mehrere europäische Länder, die zum Teil Vorreiter bei der Anwendung des Dutch Protocol waren, haben mittlerweile eine Kehrtwende vollzogen. In Finnland, Schweden, Frankreich, Norwegen und Grossbritannien warnen Wissenschaftler und Beamte des öffentlichen Gesundheitswesens davor, dass diese Massnahmen bei einigen jungen Menschen mehr schaden als nützen können. Sie haben Leitlinien herausgegeben, um medizinische Eingriffe bei Minderjährigen zu begrenzen und der psychologischen Betreuung den Vorrang zu geben. Es handelt sich dabei um eine medizinische Frage – die Rechte von trans Personen, insbesondere von Erwachsenen, stehen deswegen nicht zur Debatte.
Das Gender-Affirming Treatment ist damit zumindest in Europa ohnedies in die Defensive geraten. Die ROGD-Hypothese eignet sich dazu, die Kritik zu befeuern – es ist daher kaum verwunderlich, dass sie im Argumentarium von «genderkritischen» Kreisen mittlerweile einen festen Platz einnimmt. Diese Kreise umfassen ein breites Spektrum. Vereinigungen von Eltern von trans Kindern, die dem Gender-Affirming Treatment skeptisch gegenüberstehen, gehören dazu, aber auch transphobe Politiker, die überall eine «Gender-Ideologie» am Werk sehen oder gar Kindesmissbrauch wittern, wenn genderdysphorische Kinder behandelt werden.
In den USA ist die Debatte besonders polarisiert; sie hat Züge eines Kulturkampfs angenommen, der in weiten Teilen entlang der Parteigrenzen verläuft. Republikanische Politiker versuchen, ein Verbot der medizinischen Transition für Minderjährige durchzusetzen. So etwa Ron DeSantis, Gouverneur von Florida, der die Transgender-Behandlung von Minderjährigen verbieten möchte – was als politische Übernahme medizinischer Einrichtungen gesehen werden kann. Im republikanisch regierten Bundesstaat Texas werden geschlechtsangleichende Massnahmen bei Jugendlichen als «Kindesmisshandlung» («child abuse») eingestuft; gegen die Beteiligten wird juristisch vorgegangen. Für diese fundamentalistischen Kulturkämpfer ist ROGD selbstredend eine willkommene These.
Aber auch die Gegenseite scheint nicht immer in gutem Glauben zu agieren. Wie der «Economist» kürzlich schrieb: «Einige Demokraten haben den medizinischen Konsens darüber, wie Kindern mit geschlechtsspezifischen Problemen am besten geholfen werden kann, falsch dargestellt, indem sie dies als eine abgeschlossene Angelegenheit darstellten, obwohl es keinen globalen wissenschaftlichen Konsens gibt.» Und die selektive Würdigung von wissenschaftlichen Beweisen durch medizinische Gremien wie die American Academy of Pediatrics trage zur Erklärung bei, so der «Economist», warum Republikaner doppelt so häufig wie Demokraten glaubten, dass Wissenschaftler eine Agenda verfolgen, die über das Streben nach wissenschaftlichen Fakten hinausgeht. Dazu dürfte auch der eilfertige Rückzug von Studien gehören, wenn Protest von der «richtigen» Seite kommt.
Die Grundthese, dass eine im Pubertätsalter plötzlich auftretende Genderdysphorie natürlich auch einfach durch die Peer-Group beeinflusst sein *kann* ist doch im Grunde genommen fast schon banal 🤔
Es sind ja Fälle bekannt, wo sich in einer Schulklasse plötzlich fast die Hälfte aller Mädchen als "trans" identifiziert haben.
Eine solche Häufung wäre statistisch schon EXTREM schwer erklärbar, wenn man annimmt, dass hier keine Gruppendynamik im Spiel ist... 😂
Und eigentlich war es doch zu erwarten, dass es auch bei dem Thema durchaus Analogien zum "Werther" Effekt gibt. Statt die Forschung dazu zu verteufeln, wäre es an der Zeit, sich bewusst zu machen, dass es Fakten zur Abgrenzung braucht und dazu zu forschen.