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Wegretuschiert – wie Stalin, Lenin und Co. missliebige Leute cancelten

Aus dem Bild, aus dem Sinn – wie die Sowjets missliebige Leute wegretuschierten

22.05.2024, 05:01
Daniel Huber
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Der Zeitpunkt mag überraschend gewesen sein, nicht aber der Vorgang: Der russische Präsident Wladimir Putin hat Verteidigungsminister Sergei Schoigu entlassen. Schoigu war bereits angezählt; der auch nach zwei Jahren ausbleibende Sieg im Ukrainekrieg und sein mangelnder Einsatz gegen die grassierende Korruption im Verteidigungsministerium schadeten seiner Reputation. Erst kürzlich war Timur Iwanow, einer seiner Stellvertreter, wegen Korruptionsvorwürfen verhaftet worden. Wer etwa wissen will, wie Iwanow und seine Frau so gelebt haben, kann das hier lesen:

Schoigu, der als persönlicher Freund Putins gilt, erhielt eine neue Position, die zumindest auf dem Papier als angesehen gilt. Dieser Umgang mit Schoigu ist geradezu fürsorglich, wenn man ihn mit dem Schicksal vergleicht, das andere missliebige Personen in Putins Reich ereilt hat. Und das gilt vollends, wenn man an die Gepflogenheiten denkt, an die sich der Kreml zu Stalins Zeiten hielt. Karriereknicks verliefen damals in aller Regel tödlich, besonders in der Zeit der «Grossen Säuberung» von 1936 bis 1938.

Damals erreichte der Terror des paranoiden Diktators, vor dem kaum jemand sicher war, seinen Höhepunkt. Eine Anekdote, ob wahr oder erfunden, illustriert jenes Klima des Schreckens: Stalin begegnet in den Korridoren des Kremls einem General, hält kurz inne, mustert ihn und sagt dann: «Ah, du lebst noch!?» Tatsächlich war die Lebenserwartung unter hohen Kaderleuten damals deutlich im Sinkflug. Allerdings wurden missliebige Figuren in der Stalinzeit auch vor der sogenannten Jeschowschtschina – benannt nach dem Chef der sowjetischen Geheimpolizei NKWD, Nikolai Jeschow – schon liquidiert.

Und die physische Eliminierung der Opfer reichte dem Kreml nicht – sie wurden auch aus den Fotos getilgt, als hätten sie nie existiert. Diese sowjetische Form der Damnatio memoriae (Verdammung des Andenkens) lässt sich an einigen berühmten Beispielen zeigen, die wir hier aufgreifen:

Treppenstufen statt Trotzki und Kamenew

5. Mai 1920: Vor dem Bolschoitheater in Moskau hält Wladimir Iljitsch Lenin eine Rede vor Rotarmisten. Rechts auf der Treppe sind auf diesem Originalfoto sichtbar: Kamenew (oben) und Trotzki (unten).
Die Aufnahme von Grigori Goldstein zeigt Lenin, wie er am 5. Mai 1920 vor dem Bolschoitheater in Moskau eine Rede an Rotarmisten hält. Bild: Staatliches Historisches Museum Moskau/Grigori Petrowitsch Goldstein
5. Mai 1920: Vor dem Bolschoitheater in Moskau hält Wladimir Iljitsch Lenin eine Rede vor Rotarmisten. In dieser retuschierten Version des Bilds sind Kamenew und Trotzki von der Treppe rechts entfernt ...
Finde den Unterschied: In dieser retuschierten Version des Fotos fehlen zwei Personen. Es handelt sich um Leo Trotzki (im Originalbild die untere Person) und Lew Kamenew, zwei wichtige Figuren in der sowjetischen Machtelite. Bild: Staatliches Historisches Museum Moskau/Grigori Petrowitsch Goldstein

Dieses Beispiel für die Arbeitsweise der sowjetischen Bildzensur – eines der bekanntesten – illustriert das Ergebnis zweier Machtkämpfe. Den ersten verlor Trotzki, der als massgeblicher Organisator der Oktoberrevolution und Gründer der Roten Armee zeitweise der mächtigste sowjetische Politiker nach Lenin war. Nach Lenins Tod 1924 wurde er als «Linksabweichler» von Stalin zusehends entmachtet, wobei dieser zunächst auf die Unterstützung von Kamenew und Grigori Sinowjew zählen konnte, mit denen Stalin das sogenannte Triumvirat bildete.

Nachdem Stalin Trotzki erfolgreich entmachtet hatte, entledigte er sich 1927 im zweiten Machtkampf Kamenews und Sinowjews, die nun als «Rechtsabweichler» gebrandmarkt wurden. Beide wurden dann 1936 im ersten inszenierten Schauprozess während der Grossen Säuberung zum Tode verurteilt und hingerichtet. Trotzki hingegen entkam ins Exil, wo ihn aber Stalins langer Arm einholte: 1940 wurde er in Mexiko von einem Sowjetagenten ermordet.

Besonders Trotzki, Stalins gefährlichster Widersacher, wurde nach seiner Ausbürgerung systematisch aus dem sowjetischen Bildgedächtnis getilgt. Während der Stalin-Zeit wurde von Goldsteins Foto nur ein Ausschnitt gezeigt – die rechte Bildhälfte mit Trotzki und Kamenew liess man einfach weg. In den 1960er-Jahren wurden beide dann wegretuschiert und durch Treppenstufen ersetzt.

Das Feld um Lenin lichtet sich

7. November 1919: Die sowjetische Führung bei der Feier zum zweiten Jahrestag der Oktoberrevolution.
Am 7. November 1919 feiern führende Bolschewiki auf dem Roten Platz in Moskau den 2. Jahrestag der Oktoberrevolution. In der Mitte Lenin, neben ihm – mit Brille und salutierend – Trotzki. Der Mann mit Brille links, der neben dem salutierenden Mann mit Mütze steht, ist Kamenew. Der bärtige Mann mit Mütze vorne rechts ist Artemic Chalatow, Leiter des staatlichen Verlags. Bild: PD
7. November 1919: Die sowjetische Führung bei der Feier zum zweiten Jahrestag der Oktoberrevolution. In diesem Bild sind mehrere Personen, darunter Trotzki, wegretuschiert.
Sie alle ausser Lenin sind auf der retuschierten Version entfernt, zudem noch die Person rechts hinter Lenin.Bild: PD

Die Entfernung der in Ungnade gefallenen Personen aus den Bildern, wie sie im obigen Beispiel zu sehen ist, war nur ein Teil der Damnatio memoriae. Trotzki etwa, dessen Existenz zwar nicht einfach geleugnet werden konnte, wurde als Widersacher Lenins dargestellt und seine Leistungen für die Revolution und den Aufbau der Roten Armee wurden verschwiegen oder kleingeredet.

Nachdem der mächtige Geheimdienstchef Lawrenti Beria nach Stalins Tod 1953 entmachtet und erschossen worden war, fehlte im Jahr darauf in der Ausgabe der grossen sowjetischen Enzyklopädie plötzlich der schmeichlerische Eintrag über ihn. Dafür fanden die Leser einen erstaunlich langen Artikel über das Beringmeer ...

Weggekratzt und ...

Führungsriege der Bolschewiki auf dem provisorischen Lenin-Mausoleum in Moskau am 3. November 1925 bei der Beerdigung von Michail Frunse an der Kreml-Mauer. Stalin hält die Totenrede. Unliebsame Polit ...
Die sowjetische Führungsriege am 3. November 1925 auf dem provisorischen Lenin-Mausoleum auf dem Roten Platz in Moskau. Stalin – der schnauzbärtige Mann in der Mitte – hält die Totenrede für den am 31. Oktober verstorbenen Michail Frunse, der an der Kremlmauer beigesetzt wird. Unliebsame Personen auf dem Foto wurden nachträglich zerkratzt. Bild: Wikimedia

Die Technik der frühen Bildmanipulation bestand hauptsächlich darin, das Negativ mit einem Skalpell oder einer Nadel anzukratzen und feine Linien direkt auf die Emulsion zu malen.

... wegretuschiert

Kirov und Kalinin auf der Tribüne des Lenin-Mausoleums, Ende der 1920er-Jahre. Die erste Variante hier zeigt die für die Retuschierung vorgesehenen Bildbereiche (angekreuzte Köpfe).
Sergei Kirow und Michail Kalinin Ende der 1920er-Jahre auf der Tribüne des Lenin-Mausoleums. Auf diesem Bild sind die für die Retuschierung vorgesehenen Personen mit Kreuzen markiert. Bild: PD
Kirov und Kalinin auf der Tribüne des Lenin-Mausoleums, Ende der 1920er-Jahre. In dieser Variante sind die Retuschen bereits ausgeführt.
Hier ist die Retusche bereits vollendet: Kirow (links) und Kalinin sind nun allein auf der Tribüne. Bild: PD

Während Fotos retuschiert wurden, schnitt man aus Druckwerken Passagen heraus oder stampfte ganze Auflagen ein. Wenn sich eine Publikation aus politischen Gründen nicht mehr verhindern liess, wurden Gesichter oder Personen herausgekratzt oder geschwärzt.

Dies taten auch Privatperonen mit ihren eigenen Büchern, Zeitschriften und Fotografien – jedes Dokument konnte von einem Tag auf den anderen illegal werden und für seinen Besitzer eine tödliche Gefahr darstellen. Sogar der hohe Parteifunktionär Anastas Mikojan schwärzte in seinem Privatarchiv die in Ungnade gefallenen Personen.

Aus Stalins Nähe entfernt

Rechts NKWD-Chef Nikolai Jeschow, daneben Stalin und Molotow. Jeschow wurde später aus dem Foto heraus retuschiert, nachdem er 1938 in Ungnade gefallen war.
Stalin (Mitte) mit Wjatscheslaw Molotow (links) und NKWD-Chef Nikolai Jeschow (rechts) 1937 am Ufer des Wolga-Don-Kanals. Bild: PD
Stalin und links von ihm Molotow. NKWD-Chef Nikolai Jeschow wurde aus dem Foto herausretuschiert, nachdem er 1938 in Ungnade gefallen war.
Hier fehlt Jeschow, der sadistische «Giftzwerg». Bild: PD

Jeschow war während des Grossen Terrors Chef der sowjetischen Geheimpolizei NKWD. Die Jeschowtschina, die beinahe 800'000 dokumentierte Todesfälle forderte, richtete sich zunächst gegen die Führungsebenen von Partei und Armee, danach willkürlich gegen Parteimitglieder auf allen Ebenen und schliesslich gegen die russische Bevölkerung.

1938 aber begann Jeschows Stern zu sinken; er war Stalin mittlerweile zu mächtig geworden und der blindwütige Terror hatte Partei und Armee extrem geschwächt. Ende des Jahres wurde Jeschow entlassen, dann ereilte ihn dasselbe Schicksal wie seine Opfer und seinen Vorgänger Genrich Jagoda: Er wurde verhaftet und hingerichtet. Der «Giftzwerg», den Stalin «Brombeere» genannt hatte, wurde nach seiner Exekution aus mehreren Fotos, die ihn mit Stalin zeigten, herausretuschiert.

Stalin allein auf weiter Flur

Leningrad 1926: Original photo shows from left to right: Nikolai Antipov, Josef Stalin, Sergei Kirov, and Nikolai Shvernik.
Das Originalbild oben links zeigt von rechts nach links Nikolai Antipow, Josef Stalin, Sergei Kirow und Nikolai Schwernik 1926 am Leningrader Smolny-Institut. In den folgenden Versionen sind immer weniger Personen zu sehen, bis Stalin im letzten Bild allein dasteht. Bild: PD

Diese berühmte Bildkombo wird gern als Beispiel für die radikale sowjetische Bildmanipulation angeführt. Allerdings ist sie als Zeugnis dafür eher ungeeignet – zum einen ist nur eine der abgebildeten Personen überhaupt in Ungnade gefallen, nämlich Antipow, stellvertretender Vorsitzender des Rats der Volkskommissare, der 1938 hingerichtet wurde. Kirow fiel 1934 einem Attentat zum Opfer und Schwernik blieb unbehelligt, bis er 1970 starb. Zum andern handelt es sich beim letzten Bild eindeutig um ein Gemälde, nicht um eine Fotografie.

Selbst Stalin wegretuschiert

Auch Stalin selbst war im Rahmen der Entstalinisierung von einer damnatio memoriae betroffen: Beispielhaft ist die Geschichte des Gemäldes des Malers Wladimir Alexandrowitsch Serow aus dem Jahre 1947, ...
Wladimir Serow schuf 1947 das Propagandagemälde «Lenin proklamiert die Sowjetmacht». Hinter Lenin stehen am rechten Bildrand Stalin, Felix Dserschinski und Jakow Swerdlowsk. Bild: PD
Auch Stalin selbst war im Rahmen der Entstalinisierung von einer damnatio memoriae betroffen: Beispielhaft ist die Geschichte des Gemäldes des Malers Wladimir Alexandrowitsch Serow aus dem Jahre 1947, ...
1962 wurde das Gemälde von Serow auf Geheiss von Chruschtschow umgestaltet. Stalin, Dserschinski und Swerdlow sind verschwunden. Bild: PD

Selbst Stalin wurde nach seinem Ableben 1953 teilweise «gecancelt». Im Zuge der von seinem Nachfolger Nikita Chruschtschow initiierten Entstalinisierung wurde der Personenkult um Stalin beendet. Schön illustriert dies das Propagandagemälde «Lenin proklamiert die Sowjetmacht», auf dessen Originalversion von 1947 der Diktator noch hinter Lenin steht. 1962 musste Serow das Gemälde umgestalten: Neben Stalin wurden auch Felix Dserschinski, Gründer der sowjetischen Geheimpolizei Tscheka, und der früh verstorbene Michail Swerdlow, kurzzeitig sowjetisches Staatsoberhaupt, aus dem Bild entfernt.

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ChriLu14
22.05.2024 06:29registriert Mai 2022
Die Lüge steckt bereits im System und durchdringt dieses - z.B. internationale Sportveranstaltungen , wo sich aufgrund des massiven vom Staat betriebenen Doping manifestiett, dass die es gar erst ehrlich versuchen, sondern grundsätzlich betrügen.
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Bernhard Kuenzi
22.05.2024 07:49registriert Januar 2014
Heute werden sie nicht mehr wegretouschiert, sondern fallen aus dem Fenster...
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@Jeff
22.05.2024 07:21registriert Juli 2023
Nicht mehr dem temporären Zeitgeist entsprechende zu "canceln" war schon immer üblich (Ägypten, Rom), lebte als Praktik fort in der Sowjetunion und ist in unserer heutigen Kultur sehr stark verbreitet und akzeptiert (vgl. z.B. Forderungen nach Entfernung von Statuen z.B. Alfred Eschers).

Einfach die heutigen Technologien wie PhotoShop oder AI machen es auf Bildern und Filmen retouschen wesentlich einfacher.
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