Schweiz
Grosse Fragen

Ein Tag im Leben einer Müllfrau: «Pass auf, dass dir von der Brühe nichts ins Gesicht spritzt!»

Am Morgen sehen Roman (links), Astrid (rechts) und ich (Mitte) noch ganz frisch aus. Das soll sich bald ändern.
Am Morgen sehen Roman (links), Astrid (rechts) und ich (Mitte) noch ganz frisch aus. Das soll sich bald ändern.Bild: watson

Ein Tag im Leben einer Müllfrau: «Pass auf, dass dir von der Brühe nichts ins Gesicht spritzt!»

Klar, wenn es draussen 30 Grad heiss ist, gibt es schöneres, als im Büro zu sitzen. Seit meinem Probetag als Beladerin weiss ich jedoch, dass es mich deutlich härter hätte treffen können. Eine Reportage über (und für) alle Müllmänner und -frauen dieser Welt.
20.07.2015, 13:0421.07.2015, 06:23
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Es ist 4.45 Uhr, als der Wecker klingelt. Durch das Fenster dringt Lärm in meine Wohnung. «Oh wie schön, die Strassenreinigung! Es gibt also Menschen, die heute noch früher als ich zur Arbeit antanzen mussten», denkt es in meinem schlaftrunkenen Hirn.

An Essen ist um diese Uhrzeit eigentlich nicht zu denken. Da ich mich aber auf körperliche Anstrengung einstellen muss, würge ich irgendwie etwas Müesli runter. Mehr geht nicht. Dann düse ich los. Eine halbe Stunde Fahrt liegt vor mir, um kurz nach 6 Uhr erwartet mich das Team von Obrist Transporte in Neuenhof AG. 

Um halb 6 in Sachen Nahrung das höchste der Gefühle.
Um halb 6 in Sachen Nahrung das höchste der Gefühle.Bild: watson

Astrid ist die einzige Frau

Als sich um halb 7 alle auf dem Hof der Firma versammelt haben, wird mir ein Team von etwa 20 Leuten vorgestellt – davon genau eine Frau. Das ist Astrid, sie ist allerdings keine Beladerin, sondern Chauffeuse. Um genau zu sein, ist sie die Frau, die das Fahrzeug lenkt, auf dem ich heute mitfahren darf. Ausserdem sind auf jedes Fahrzeug zwei Belader eingeteilt. Mit mir im Team ist Roman – und der tut mir jetzt schon leid. Denn wahrscheinlich muss er dank meiner Anwesenheit heute doppelte Arbeit leisten.

Sollte Roman gerade dasselbe denken (und später erfahre ich, dass dem so war), kann er das gut verstecken. Er legt los, als wäre alles so wie immer. Während wir die ersten Mülltonnen leeren, erklärt er die wichtigsten Handgriffe und weist auf mögliche Gefahren hin: «Greif die Container immer hier oben an, da unten quetschst du dir sonst die Hände ein.» Und: «Du musst den Hebel langsam betätigen. Wenn du zu viel Schwung gibst, fällt der Container mit in den Kehrichtwagen.»

«Pass auf, dass dir von der Brühe nichts ins Gesicht spritzt.»
Roman, Belader
Welch wunderschöne Aussicht: Ein Blick in den Kehrichtwagen.
Welch wunderschöne Aussicht: Ein Blick in den Kehrichtwagen.Bild: watson

Die meisten Tipps und Tricks sind vor allem praktischer Art: «Du musst immer ein bisschen aufpassen, dass dir nichts von der Brühe ins Gesicht spritzt. Das ist mir gerade gestern mal wieder passiert», sagt Roman, als die ins Fahrzeug integrierte Presse den bereits gesammelten Müll – und damit die prall gefüllten Abfallsäcke – zusammenquetscht. 

Mein Blick fällt auf eine undefinierbare Suppe, in der sich schon jetzt ganze Heerscharen von Mehlwürmern tummeln – dabei sind wir doch gerade erst ein paar Minuten unterwegs. Automatisch nehme ich auf der kleinen Plattform hinten links am Kehrichtfahrzeug eine leicht nach hinten gelehnte Position ein, während der Wagen langsam wieder Fahrt aufnimmt.

Einen 2-Meter-Mann hat es umgehauen

Nach kurzer Zeit wird mir klar, dass sich Roman aber auch um meine Gesundheit sorgt. Wenn ich eine Pause bräuchte, solle ich mich ruhig in die Fahrerkabine setzen, er würde dann allein weitermachen. «Gerade neulich erst ist uns ein 2-Meter-Mann hinten runtergefallen, als es so heiss war. Das kommt davon, wenn man zu wenig trinkt und isst», warnt er mich.

«Ach komm schon, ich bin doch nicht aus Zucker», sage ich. In meiner Vorstellung schiebt man als Müllmann den ganzen Tag lang Mülltonnen von Hauseingängen zum Kehrichtfahrzeug und wieder zurück. Diese Tonnen können zwar – wenn sie richtig voll sind – ganz schön schwer sein, aber sooooo anstrengend wird das schon nicht sein.

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Mülltonne hinschieben – hoch – runter – fertig:

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Sieht doch eigentlich ganz einfach aus.gif: watson

Schnell werde ich eines Besseren belehrt. Denn während in der Stadt Zürich die meisten Container aus Kunststoff sind, verhält sich das in der Gemeinde Neuenhof AG etwas anders: Hier ist vielleicht einer von 15 Containern aus Plastik, alle anderen sind aus Metall und haben ein Leergewicht von 120 bis 200 Kilo – je nach Modell. Weil die Dinger so schwer sind, schieben und ziehen Roman und ich sie zu zweit. 

Nach kurzer Zeit überkommt mich das schlechte Gewissen: «Lass mich raten, normalerweise nimmt jeder von euch einen Container, dann geht alles etwas schneller, nicht wahr?», frage ich Roman. «Ja, schon. Aber eigentlich sollten wir das nicht machen. Das ist gar nicht gut für den Rücken», versucht er mich zu trösten, kann sein Grinsen aber nicht ganz unterdrücken. So gut ich kann, versuche ich ab und zu einen Container allein zum Wagen zu ziehen, oder zumindest die leeren allein zurückzuschieben.

Siehst du die Greifarme, in die wir den Container klemmen wollen? Es empfiehlt sich NICHT, mit dem Oberschenkel dagegen zu rennen ...
Siehst du die Greifarme, in die wir den Container klemmen wollen? Es empfiehlt sich NICHT, mit dem Oberschenkel dagegen zu rennen ...Bild: watson

Wie, es ist erst 7.30 Uhr?!

Doch mit den schweren Containern ist es längst nicht getan: Da nicht jedes Haus einen solchen besitzt, liegen am Strassenrand auch viele Müllsäcke lose rum. Während Roman diese zum Teil im Vorbeifahren ohne abzusteigen einsammelt und sie mit einem eleganten Schwung hinter dem Rücken entlang in den Wagen schlenzt, muss ich dafür jedes Mal absteigen. Hat man die ersten 100 Säcke vom Boden gehoben, macht man sich langsam eine Vorstellung davon, wie anstrengend die kommenden Stunden sein werden.

Nach einiger Zeit stellt sich so etwas wie Routine ein. «Hach, das läuft doch alles ganz easy», sage ich und lehne mich bei circa 30 Km/h möglichst weit nach links, um mich vom Fahrtwind abkühlen zu lassen – und um gleichzeitig dem Gestank des Kehrichtwagens zu entkommen. Da fällt mein Blick auf eine Kirchturmuhr. Es ist 7.30 Uhr und damit gerade mal eine Stunde vorüber. Okay, vielleicht wird das alles doch nicht so easy.

Hört auf, eure Sofas im Sommer zu entsorgen!

Schwere Müllcontainer – okay. Hunderte von schweren Müllsäcken, die bis oben hin mit Babywindeln oder Hunde-Kaki-Säcken gefüllt sind – okay. Das will ich mir ja noch alles gefallen lassen. Aber Sofas? Wollt ihr mich veräppeln? Ich war bisher davon ausgegangen, dass solches Sperrgut von speziellen Transportern abgeholt würde. Falsch gedacht! Wenn die Möbel mit entsprechenden Entsorgungsmarken beklebt sind, werden sie vom ganz «normalen» Entsorgungsdienst – also von uns – mitgenommen.

Und so sammeln wir am heutigen Tag geschlagen sieben (S-I-E-B-E-N!) Sofas in nur einer Gemeinde ein. Und das ist nichts Besonderes: «Ich habe keine Ahnung, wo die Leute all die Möbel herholen. Aber ein paar Sofas sind jede Woche dabei. Wobei, letzte Woche waren es mehr Betten», sagt Roman und lacht. Dass ich meinen nächsten Probetag vielleicht nicht unbedingt als Möbelpacker absolvieren sollte, beweist das folgende Video:

Um 11 Uhr fahren wir zum ersten Mal zur Kehrichtverbrennungsanlage – unser Wagen ist voll. Knapp 10 Tonnen liefern wir ab. Roman schaut zur Uhr: «Och, wir liegen gar nicht so schlecht in der Zeit.» «Was verstehst du unter ‹gar nicht so schlecht›?», hake ich nach. «Naja, ich war schon mit Männern unterwegs, die bereits ihren zweiten oder dritten Tag hatten. Und da waren wir zeitlich weiter hinten dran», sagt Roman, um mich aufzubauen.

Juhu! Ein Video von halbnackten Frauen!

Bald darauf steht (endlich) die Mittagspause an. Weil wir die Route der heimischen Gemeinde Neuenhof abdecken, können wir die Pause auf dem Firmenhof verbringen, wo Roman für unser Team Bratwürste auf den Grill schmeisst. Dazu gibt's Salat und Brot. Irgendwie bilde ich mir ein, dass der Salat nach Abfall schmeckt. Seltsam, während des Arbeitens hatte ich die Sache mit dem Gestank als gar nicht so schlimm empfunden. Aber offenbar hat sich der Geruch schon auf mir festgesetzt. Lecker.

Egal, die Männer am Tisch sorgen für ausreichend Ablenkung – es wird ein Handy rumgereicht, auf dem gerade ein Youtube-Clip läuft: Frauen, die American Football spielen. Die Herren sind begeistert: Kein Wunder, denn die Damen tragen zum Ausüben dieses Sports einen Hauch von Nichts. Astrid und ich können uns für den Clip nicht ganz so ausufernd begeistern – lachen aber trotzdem mit.

Ab 2016 ist Schluss mit den kurzen Hosen

Genug der Bespassung, die Arbeit ruft. Inzwischen ist das Thermometer auf über 30 Grad geklettert. Roman bemitleidet mich, weil ich eine Jeans trage. Er und seine Kollegen arbeiten in kurzen Hosen – aber damit wird bald Schluss sein. «Ab 2016 müssen wir immer lange Hosen tragen, weil die kurzen angeblich nicht sicher genug sind», erklärt Roman. Der Unmut steht ihm ins Gesicht geschrieben. Mir persönlich machen die Temperaturen erstaunlich wenig zu schaffen.

Am Nachmittag vergeht die Zeit wie im Flug. Roman und ich sind inzwischen ein eingespieltes Team, während der Arbeit plaudern wir über Gott und die Welt. Irgendwann stehen wir nebeneinander schweigend auf unseren kleinen Plattformen und starren in die Müllpampe im Wagen. «Ob man sich daran wohl irgendwann gewöhnt?», denke ich. Doch bevor ich die Frage laut aussprechen kann, sagt Roman: «Puh, ich finde das auch nach einem Jahr noch grusig.»

«Weil es mir so gefallen hat, bin ich einfach geblieben»
Roman, Belader

Roman hat ursprünglich eine Lehre zum Produktions-Mechaniker angefangen. Nachdem er eine Zeit lang arbeitslos war, hat er bei der Firma Obrist angefangen. «Am Anfang sollte das eigentlich nur eine Übergangslösung auf Stundenbasis sein. Dann wurde mir eine Festanstellung angeboten. Weil es mir so gefallen hat, bin ich einfach geblieben», erzählt der 25-Jährige.

Und irgendwie verstehe ich ihn. Wäre ich auf Jobsuche, könnte ich mir den Beruf des Beladers auf jeden Fall besser vorstellen, als beispielsweise Tag ein Tag aus an einer Supermarktkasse zu sitzen. Man ist an der (mehr oder weniger) frischen Luft, ständig in Bewegung und wenn man etwas Glück hat, bekommt man für die Arbeit sogar Applaus.

«Leider sind gerade Schulferien, aber in vielen Gemeinden haben wir richtige kleine Fanclubs. Da stehen die Kinder dann schon auf der Strasse und warten, dass wir endlich kommen», erzählt Roman. Später begegnen wir dann tatsächlich noch einer Gruppe kleiner Kinder, die uns schon von Weitem zujubelt. In einem anderen Quartier fängt uns ein älterer Herr ab und steckt uns 20 Franken zu: «Gönnt euch davon einen ordentlichen Znüni! Ihr macht wirklich eine super Arbeit!» Apropos Geld: Als Belader verdient man zwischen 4300 und 4500 Franken.

Am Nachmittag knallt ordentlich die Sonne – wir machen unbeirrt weiter.
Am Nachmittag knallt ordentlich die Sonne – wir machen unbeirrt weiter.Bild: watson

Ich glaube, ich habe die ganze Schweiz aufgeräumt

Um 17 Uhr haben wir es geschafft: Die Gemeinde ist ihren Müll los und wir sind klatschnass geschwitzt. Jetzt muss Roman gestehen: «Am Anfang habe ich nicht gedacht, dass wir das heute schaffen.» Doch ich konnte ihn eines Besseren belehren: Ich bin weder vom Wagen gekippt, noch habe ich mir irgendwelche gröberen Verletzungen zugezogen.

Ein bisschen stolz und totmüde fahre ich nach Hause, stelle mich unter die Dusche, falle gegen 18.30 Uhr ins Bett und schlafe ein. Eine Stunde später werde ich wieder wach und bin total verwirrt: «Wie spät ist es, was für Tag ist heute und was habe ich heute gemacht?» Als ich versuche, einen Arm zu heben und ein Bein zu bewegen, wird mir alles wieder klar.

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14 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Rostic
20.07.2015 13:39registriert Oktober 2014
Bravo, solche Frauen braucht das Land!
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's all good, man!
20.07.2015 13:53registriert September 2014
Super Bericht! Finde es toll, dass watson solche Experimente macht und darüber berichtet.

Aber sag mal, Viktoria, warum wirst immer du in eurem Ressort zu diesen Selbstversuchen verdonnert? 😜
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Bowell
20.07.2015 14:02registriert Mai 2014
Sehr schöner Bericht! Ich warte nun auf die Forderung nach einer Müllfrauenquote!
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