Was wäre passiert, wenn nicht Hillary Clinton, sondern Bernie Sanders gegen Donald Trump angetreten wäre?
Eine Frage, die sich nach der historischen US-Wahl von vergangenem November viele stellten. Hätte Sanders Trump schlagen können? Verkörperte der rüstige Senator aus Vermont nicht ebenso einen grossen «Change», wie Donald Trump es tat? Hätte er die Leute mitreissen können, welche genug vom Establishment hatten?
Gut möglich.
Hillary Clinton scheiterte jedenfalls kläglich daran, die Leute zu mobilisieren. Sie versprach keinen Wandel, konnte keine Bewegung kreieren – und ermöglichte so, dass ein gefährlicher Demagoge nun der mächtigste Mann der westlichen Welt ist.
Nun bahnt sich auf der anderen Seite des Atlantiks ein ähnliches Szenario an. Und zwar In Frankreich. In gut zwei Wochen wird in der «Grande Nation» gewählt. Und plötzlich liegt eine faustdicke Überraschung in der Luft.
Gemäss einer am Sonntagabend publizierten Umfrage liegt Linksaussenpolitiker Jean-Luc Mélenchon zum ersten Mal vor dem konservativen Kandidaten François Fillon. Somit hat der 65-jährige Mélenchon seit Mitte März um satte acht Punkte zugelegt. Nur noch Marine Le Pen und Emmanuel Macron liegen vor dem Überraschungsmann. Noch beträgt der Vorsprung der beiden Top-Kandidaten sechs Punkte, doch Mélenchon Kurve steigt steil nach oben.
Pour la 1ere fois, #Mélenchon (18%) passe devant #Fillon (17%) dans un sondage @TNS_Sofres. Devant, #LePen et #Macron (en recul) sont à 24% pic.twitter.com/l5GlxHjSPI
— Olivier Biffaud (@bif_o) 9. April 2017
Auch in Frankreich herrscht wie in den USA viel Unmut gegenüber der herrschenden Elite. Während Obama zum Ende seiner Amtszeit trotzdem gute Beliebtheitswerte vorweisen konnte, sind jene von François Hollande derart im Keller, dass er gar nicht mehr antritt.
Die Franzosen sind mit der Arbeit der vergangenen Regierungen äusserst unzufrieden. Die gestern veröffentlichten Umfragewerte wiederspiegeln dies deutlich. Benoît Hamon, der für die gleiche Partei wie Hollande antritt, kommt gerade mal auf neun Punkte.
Auch für Fillon, der als Minister für die Regierung von Hollandes Vorgänger Sarkozy arbeitete, ist der Wahlkampf ein Desaster. Er startete als Favorit ins Rennen, liegt nun aber fast schon hoffnungslos zurück. Der Konservative nagt vor allem am Vorwurf, er habe Familienmitglieder scheinbeschäftigt.
Bleiben also noch drei Kandidaten, die eine realistische Chance haben, den ersten Cut am 23. April zu überstehen und den Sprung in die Stichwahl vom 7. Mai zu schaffen. Marine Le Pen, Emmanuel Macron und neuerdings auch Jean-Luc Mélenchon.
Die Parallelen zur Wahl in den USA sind unverkennbar. Marine Le Pen vom rechten Front National erinnert mit ihrem nationalistischen Wahlprogramm stark an Donald Trump. Sie kann getrost als französisches Pendant des neuen US-Präsidenten bezeichnet werden.
Würde die 48-jährige gewählt, kein Stein bliebe in der französischen Politik auf dem anderen. Ein Ausstieg aus der EU wäre quasi beschlossene Sache. Für viele Franzosen ein langersehnter Richtungswechsel.
Kommen wir zu Macron. Der erst 39-Jährige legte eine beispiellose Karriere hin. Als Sohn eines Ärzte-Ehepaars besuchte er ein Elite-Gymnasium und studierte später an der renommierten «Sciences-Po» in Paris. Mit 31 Jahren arbeitete er als Investmentbanker bei der Pariser Investmentbank Rothschild. 2012 gab er diesen Job auf und diente in der Folge für die Regierung Hollande, wobei er zum Wirtschaftsminister aufstieg.
Ein Kandidat mit Regierungserfahrung und tadellosem Lebenslauf. Das erinnert stark an Hillary Clinton. Obschon sich Macron 2016 von Hollandes «Parti Socialiste» lossagte und seine eigene Partei gründete, haftet dem Ex-Banker ein strenger Geruch des Establishments an.
Obwohl sich viele gemässigte Franzosen Macron als Präsidenten vorstellen könnten, der seine Rolle ganz ordentlich spielen würde, fehlt auch bei ihm das gewisse etwas. Viele zweifeln daran, dass sich mit Macron im Élysée-Palast wirklich etwas ändern würde.
Die Chancen, dass Macron in einer Stichwahl gegen Le Pen gewählt würde, stehen gut. Sagen zumindest die Umfragen. Aber das taten sie bei Hillary Clinton auch.
Bleibt also noch Jean-Luc Mélenchon. Oder besser gesagt die Bewegung, die der 65-Jährige ins Leben gerufen hat. «Hört auf meinen Namen zu skandieren», rief er gestern den rund 70'000 Menschen zu, die an seine Wahlkampfveranstaltung im Hafen von Marseille gepilgert waren. «Ihr seid keine Untergebenen, ihr seid es, die diese Bewegung tragen.»
Immer wieder beschwörte der Anführer der linken Bewegung «La France Insoumise» (das aufständische Frankreich) gestern «unsere Liebe für die anderen» und legte eine Schweigeminute für die Flüchtlinge ein, welche im Mittelmeer ihr Leben lassen mussten.
"Je ne veux pas que mon nom soit un slogan. Vous n’êtes pas des dévots", lance Mélenchon à Marseille pic.twitter.com/U1Agdn0tOU
— BFMTV (@BFMTV) 9. April 2017
Mélenchon verspricht ein radikales Programm. Er möchte unter anderem:
Diese Punkte erinnern stark an das Programm von Bernie Sanders, der sich ebenfalls für eine Umverteilung stark macht, den Klimawandel bekämpfen will und eine Gesundheitsversorgung für alle fordert.
Die von Jean-Luc Mélenchon angepeilten Reformen wären wohl um einiges extremer als jene, die Bernie Sanders versprach. Mélenchon gilt als scharfer Kritiker der EU-Austeritätspolitik und wurde in Vergangenheit gegenüber Angela Merkel auch schon mal ausfällig. Der Politiker, der 2008 mit der «Parti Socialiste» brach, wünscht sich für Frankreich sogar eine Verfassungsänderung.
Für Aufsehen und Verwunderung sorgten auch Aussagen Mélenchon, in denen er Putins Syrien- und Ukraine-Politik punktuell verteidigte. Allerdings sagte Mélenchon kürzlich: «Wenn ich Russe wäre, würde ich nie Putins Partei wählen, sondern meinen linken Kameraden, der im Gefängnis sitzt.»
Freilich, eine Wahl Mélenchons würde den Politik-Betrieb in Frankreich und Europa gehörig durchschütteln. Die Folgen wären unabsehbar. Doch vielleicht ist es genau das, was der französische Wähler nach Jahren der Enttäuschungen jetzt will.
Im Vergleich zur Situation in den USA nach Obamas Amtszeit, ist die allgemeine Politik-Zufriedenheit in Frankreich deutlich tiefer. Bernie Sanders musste nicht alles in Frage stellen, was Obama getan hat und hatte dennoch beachtlichen Erfolg. Jean-Luc Mélenchon tut derweil gut daran, sich deutlich von Hollande zu distanzieren und sich als grosser Reformator zu präsentieren.
Noch ist Mélenchon Rückstand auf Le Pen und Macron beträchtlich, doch zwei Wochen vor der Wahl ist ein drittel der Franzosen noch immer unentschlossen. Und so träumte der Revoluzzer gestern Sonntag in Marseille: «Wir können es hören. Wir können es fühlen. Ein Sieg ist in Reichweite.»