Es gibt Filme. Und Filme. Alte und neue. Analoge und digitale. Und wenn sich die analogen nicht rechtzeitig in digitale verwandeln, sind sie verloren. Weil kein Kino mehr alte Projektoren besitzt. Weil sowieso alle alles im Internet suchen. Legal und illegal. Die alten Filmstreifen schlummern derweil in Archiven und werden immer gebrechlicher. Am Tageslicht verenden sie wie aus ihren Särgen gezerrte Vampire.
Und plötzlich sind ganze Jahrzehnte der Filmgeschichte dahin. Jahrzehnte, die wir uns vor allem schwarz-weiss vorstellen. Was ein Fehler ist. Denn die Vergangenheit des Kinos ist bunt. «Es gibt Schätzungen, dass achtzig Prozent der alten Filme farbig waren», sagt Barbara Flückiger, Professorin für Filmwissenschaft an der Uni Zürich. Der Stummfilm «Das Cabinet des Dr. Caligari» etwa, den wir alle schwarz-weiss kennen, kam zuerst farbig ins Kino.
Und wieso? «Die Negative der Filme waren schwarz-weiss, davon wurden Positive gezogen, und diese tauchte man in Farbbäder.» Von den meisten dieser Filme gibts heute nur noch die Negative oder die unkolorierten Positive. Bis 1929 wurde also gebadet, ab 1932 wurde gedruckt. Technicolor war geboren.
Technicolor verbinden wir mit farbsatten Melodramen wie «Gone with the Wind», mit Musikfilmen wie «The Wizard of Oz», mit Hitchcock, mit Douglas Sirk und Marilyn Monroe in «Gentlemen Prefer Blondes». Technicolor ist ein anderes Wort für die hemmungslose Überwältigung durch juwelenartig funkelnde Bilder im dunkeln Kinosaal. Oder für das üppige Festtags-Fernsehen über Weihnachten.
Aber was geschieht nun, wenn diese Filme digitalisiert werden? Oft viel zu viel. Neue DVD- oder Bluray-Edition werben gern mit Begriffen wie «like never before», «more beautiful than ever», «enhanced», «you have your vision restored». Also anders, spektakulärer, gereinigt, verbessert sollen sie jetzt plötzlich sein, die alten Dreckspatzen von Filmen.
Mit dem Resultat, dass der restaurierte Film mit dem Original oft nichts mehr zu tun hat. Besonders einleuchtend ist ein Bild aus «All That Heaven Allows» von Douglas Sirk: in einer saphirblauen Nacht steht ein Liebespaar auf einem Balkon, drinnen eine beleuchtete Party-Gesellschaft. Das Paar scheint sich fast heimlich zu treffen, die Edelsteinfarbe, in die es abtaucht, ist typisch für Douglas Sirk. Gleiches Bild, restaurierte Fassung: Es ist nicht mehr Nacht, sondern höchstens später Nachmittag, man sieht zweifellos viel mehr, aber das Geheimnis fehlt.
«Bei der Mona Lisa ist es jedem klar, dass man da nicht einfach drin rumpinselt» sagt Flückiger. Beim Transfer eines alten Films in eine neue Fassung, ist die Verführung, die Mittel, die man hat, auch anzuwenden, allzu gross. Wichtige Partikel der Filmgeschichte werden einfach weggeputzt.
Ein anderes, fragileres Beispiel sind «The Red Shoes», der legendäre Tanzfilm nach dem Märchen von Hans-Christian Andersen. Kann es sein, dass ausgerechnet die restaurierte Fassung aus dem Martin-Scorsese-Archiv am weitesten vom Original entfernt ist? Aber wie könnte «das» Original, wenn es denn überhaupt irgendwie, irgendwo existiert, denn eigentlich aussehen? Ist ein wärmerer, weicherer, aber auch farblich reicherer Fund aus Finnland nicht näher an den alten Skizzen des Art Directors von «The Red Shoes» dran? Und was ist mit der vornehm verblassten Kopie aus dem British Film Institute? Welches Rosa ist das richtige Rosa?
Damit historische Filme also für die Zukunft gerettet werden können, brauchen wir ein möglichst exaktes Wissen um ihre Vergangenheit. Barbara Flückiger betreibt dafür eine Datenbank, die «Timeline of Historical Film Colors», in die sie privat bereits einen Betrag «in der Grössenordnung eines edleren Mittelklasseautos» investiert hat.
Tausende von Bildern aus Dutzenden von Filmen finden sich da. Für Laien ist das ein zauberhaftes Kaleidoskop, für Profis wertvolle Grundlagenforschung, wenn es darum geht, verschiedene Fassungen miteinander zu vergleichen und sich zu entscheiden, wie eine möglichst originalgetreue Restaurierung wohl aussehen könnte.
Sie selbst betreut gerade mit ihrem Forschungsteam die Restauration von Franz Schnyders «Heidi und Peter» aus dem Jahr 1955 für das Schweizer Fernsehen. Der Heidifilm war der erste Schweizer Kino-Farbfilm, im Moment läuft der Aufruf an alle Filmarchive weltweit, alle Kopien, alle Fragmente in die Schweiz zu schicken, wo sie gesichtet und verglichen werden. Gerade tendiert sie zu einer französischen Kopie, deren Farben minimal stumpfer, aber wämer und tiefer scheinen als in der uns vetrauten TV-Fassung.
Flückiger arbeitet dafür mit Disney Research Zürich zusammen, der einzigen ausser-amerikanischen Forschungsstätte von Disney. «Schuld» am Standort Zürich und an den gut 80 Angestellten ist Markus Gross, ETH-Professor für Computergrafik. Ihn wünschte sich Disney als Leiter ihres Labors. «Bis jetzt», sagt Flückiger, «haben die Disney-Leute mit Videos geabeitet, nicht mit greifbarem, historischem Filmmaterial.» Jetzt entwickeln sie praktische technische Lösungen für die filmwissenschaftlichen Fragen, die Flückiger stellt, etwa eine Software zur pixelgenauen Farbgebung der Digitalisate.
Manchmal fallen Barbara Flückiger Details auf: Etwa die unendliche Poesie von Schiffen in alten Filmen. Transportmittel eines aufgeblähten Fernwehs. Irgendwann, wenn sie endlich genug Geld zusammenkriegt für ihre Datenbank, wird man dort auch nach den Begriffen «Schiff», «Zug», «Auto», «Flugzeug», «Avantgarde», «Tanzfilm» oder «Krimi» suchen können. Und neben den Bildern mit ihren technischen Infos sollen auch alte Zeitungsartikel, Filmkritiken etc. aufgeschaltet werden.
Bevor Barbara Flückiger Filmwissenschaften studierte und schliesslich Professorin wurde, arbeitete sie zwölf Jahre lang als Filmtechnikerin für Ton, Schnitt und Sounddesign. An gut dreissig Filmen hat sie mitgewirkt, hat mit Daniel Schmid, Léa Pool, Markus Imhoof und Markus Imboden gearbeitet, aber noch öfter als in der Schweiz war sie in Italien beschäftigt.
Früher machte sie also Filme, dann dachte sie über Filme nach, jetzt rettet sie Filme. Eins ihrer kleineren Restaurationsprojekte ist der amüsante amerikanische Kurzfilm «Switzerland Sportland» von 1952: Die Schweiz, kein Volk von Bauern, sondern von Hardbodies und Spitzensportlern – und immer vor den allerschönsten Landschaftskulissen. Tennis in Wengen, Springreiten in Grindelwald «Strength and grace are a national heritage.» Ja, klar. Und Ende.