Die Erwartungen an die erste Rede eines US-Präsidenten nach der Vereidigung sind gross. Meistens zu gross. Aber stets wird ein Appell an den amerikanischen Optimismus erwartet, garniert mit einer Portion Pathos. In dieser Hinsicht hat Joseph R. Biden geliefert. Seine Ansprache vermittelte Aufbruchstimmung in einer von Tragik geprägten Zeit.
Vor vier Jahren erlebte man vor dem Kapitol das genaue Gegenteil. Die USA befanden sich mitten in einem wirtschaftlichen Aufschwung, doch der neue Präsident Donald Trump lieferte eine düstere, von Schwarzmalerei geprägte Rede. «That was some weird shit», sagte Ex-Präsident George W. Bush danach zu Hillary Clinton, die Trump unterlegen war.
Bush ist bekannt für seinen Hang zu saloppen Sprüchen, aber selbst er konnte damals kaum ahnen, wie viel «weird shit» noch folgen sollte. Die Quittung erhielt Donald Trump mit seiner Niederlage gegen Joe Biden im letzten November. Am Ende gelang ihm ein halbwegs anständiger Abgang, doch der Einführung seines Nachfolgers blieb er demonstrativ fern.
Biden zahlte es ihm mit gleicher Münze zurück. In seiner ersten Rede als vereidigter US-Präsident erwies er seinen noch lebenden Amtsvorgängern seine Reverenz, auch dem aus Alters- und Gesundheitsgründen abwesenden Jimmy Carter. Er begrüsste auch Vizepräsident Mike Pence, doch Donald Trump erwähnte er mit keinem Wort.
Er hatte seine Gründe. Exakt zwei Wochen zuvor hatte ein von Trump aufgehetzter Mob an der gleichen Stelle das Kapitol gestürmt, wo am Mittwoch die Amtseinführung stattfand. Biden erwähnte diesen Versuch, «den Willen der Menschen mit Gewalt zum Schweigen zu bringen» gleich zu Beginn. Sein Fazit: «Die Demokratie hat sich durchgesetzt.»
Es war ein starker Auftritt des 78-Jährigen. Nach dem Erreichen des Ziels, das er in seiner fast 50-jährigen politischen Karriere sehnlichst angestrebt hatte, wirkte Biden um Jahre verjüngt. Mit fester Stimme sprach er das giftige Erbe des Trumpismus an: «Politischer Extremismus, weisses Überlegenheitsdenken, einheimischer Terrorismus.»
Ein Grundübel erwähnte er unverblümt: «Wir müssen die Kultur ablehnen, in der Fakten manipuliert und sogar fabriziert werden.» Es gebe Wahrheit und Lügen, meinte Biden mit einem Seitenhieb auf seinen Vorgänger. Deutlicher kann man den Bruch mit dem Trumpismus kaum markieren, auch wenn das bei den Trump-Fans kaum ankommen wird.
Bei aller Abgrenzung bemühte sich Präsident Biden auch um die Einheit der Nation. «Ich werde ein Präsident für alle Amerikaner sein, auch jene, die mich nicht gewählt haben», versprach er. Es ist ein ziemlicher Spagat, den sich Biden zutraut. Seine Rede war denn auch von einem optimistischen Tonfall geprägt, einem Appell an die Stärke des Landes.
Das ist nötig in diesem «Winter der Gefahren». Da ist zuerst die Corona-Pandemie. 400’000 Menschen sind in den USA bislang gestorben, «mehr als im Zweiten Weltkrieg», wie Biden betonte. Als weitere Herausforderungen nannte er Gewalt, Rassismus, Ungleichheit und die Klimakrise. Biden aber setzt auf das Prinzip Hoffnung: «Wir können Grossartiges tun.»
Da war er wieder, der unerschütterliche Optimismus: «Gemeinsam können wir eine amerikanische Geschichte der Hoffnung, der Einigkeit und des Lichts schreiben – nicht eine der Angst, der Zwietracht, der Dunkelheit. Eine Geschichte des Anstands und der Würde, der Liebe, des Heilens, der Grösse und Güte.» Ohne Pathos geht es eben nicht.
Die Aussenpolitik kam in Joe Bidens Rede kaum vor. Er versprach, die unter Donald Trump zerrütteten Allianzen zu reparieren und mit der Welt zusammenzuarbeiten. Für viele, die den USA misstrauen, mag dies mehr wie eine Drohung als wie eine Verheissung wirken. Aber Biden will «Amerika als führende Kraft für das Gute in der Welt» etablieren.
Es ist ein grosses Programm, das sich der alte Mann vorgenommen hat. An seiner Bereitschaft, es anzupacken, liess er keinen Zweifel. Schon am ersten Arbeitstag will der Demokrat aus Delaware einige Entscheide des Vorgängers stoppen, etwa den Ausstieg der USA aus dem Pariser Klimaabkommen und den Bau der Mauer an der Südgrenze.
«Es gibt viel zu tun, viel zu reparieren, viel zu erneuern, viel zu heilen, viel aufzubauen und viel zu gewinnen», deklamierte Joe Biden. Das Versprechen eines Neuanfangs ist gemacht. Nun muss der Neue nur noch liefern.