Einerseits durch eine Finte. Durch die Gegenoffensive der Ukrainer im Süden wurden die Russen dazu verleitet, Truppen aus dem Osten in den Süden zu verlegen. Dadurch haben sie Teile der Front im Osten entblösst. Andrerseits wegen der überlegenen Taktik der Ukrainer. Sie griffen die Russen an deren schwächsten Stellen an und stiessen so schnell vor, dass dem Gegner die Einkesselung zwischen zwei Flüssen drohte. Um ihre Kräfte zu retten, blieb den Russen da nur noch der Rückzug, manchmal auch Flucht genannt.
Polen und Tschechien haben der Ukraine rund 250 modernisierte T-72-Kampfpanzer überlassen. Diese spielten eine entscheidende Rolle, zusammen mit Schützen- und Transportpanzern aus anderen westlichen Staaten. Dank ihnen konnten die Ukrainer schnell vorstossen und die Russen in der wichtigen Basis von Izium von hinten angreifen. Grosses Lob haben die Ukrainer auch den Gepard-Flugabwehrpanzern aus Deutschland gezollt. Diese sind mit zwei Oerlikon-Maschinenkanonen ausgerüstet.
Viele Frontabschnitte wurden von Soldaten gehalten, welche die Russen in den von ihnen besetzten «Volksrepubliken» im ukrainischen Donbass rekrutiert hatten. Diese Einheiten sind nicht mehr als Kanonenfutter, schlecht ausgerüstet, kaum trainiert, nicht in der Lage, Artillerie- oder Luftunterstützung anzufordern. Dadurch wurden auch Truppen der Ersten Panzergardearmee in eine ungemütliche Lage gebracht. Hätten die russischen Panzersoldaten in Izium länger gekämpft, wären sie von den Ukrainern weiter östlich von den Brücken über den Oskil-Fluss abgeschnitten worden. Die Folge wäre eine Kesselschlacht gewesen.
Diese Wende konnte man schon vor Wochen beobachten, als das russische Artilleriefeuer spürbar nachliess, weil die Ukrainer mit amerikanischen Himars-Raketen die Munitionsdepots der Russen zerstörten. Das wurde in den meisten Medien aber noch nicht so wahrgenommen. Was wir jetzt sehen, ist die Folge dieser sehr geschickten Vorbereitungsschritte der Ukrainer, die Nachschubwege der Russen empfindlich zu stören. Die Initiative liegt jetzt klar bei den Ukrainern, die Russen reagieren nur noch. Es könnte nun auch gut sein, dass sich im Süden grosse Veränderungen anbahnen. Und wenn die Ukrainer ihren Vorstoss im Osten fortsetzen, wären sie möglicherweise in der Lage, die seit acht Jahren bestehenden Befestigungen an der Front im Donbass zu umgehen und von hinten aufzurollen. Aber das ist Zukunftsmusik. Der Ausgang von Schlachten und wem das Kriegsglück winkt - das lässt sich nicht vorhersagen. Allerdings rückt jetzt eine endgültige Niederlage Russlands in den Bereich des Möglichen.
Bisher hat es Putin aus innenpolitischen Gründen gescheut, mobil zu machen. Es kämpften also praktisch nur Freiwillige in der Ukraine. Will der Diktator das ändern, hätte das bestimmt innenpolitische Auswirkungen. Bereits jetzt haben einige Lokalparlamente in Russland Putins Absetzung gefordert. Bei einer Generalmobilmachung würde es Wochen bis Monate dauern, bis die neu rekrutierten Kräfte einsatzbereit wären. Und es würde sich mit Sicherheit um schlecht trainierte, unerfahrene Einheiten handeln. Möglicherweise sind bis dahin die wichtigen Entscheidungen auf dem Schlachtfeld schon gefallen. Ausserdem hatten es Politiker in Russland immer schwer, sich an der Macht zu halten, wenn sie Kriege verlieren. Russische Racheakte hat es bereits gegeben, wie die brutalen Raketenangriffe auf Charkiw zeigen. Zu fragen ist jetzt aber auch, ob sich die Ukrainer in den neu zurückeroberten Gebieten zu Racheakten gegenüber Zivilisten und Kollaborateuren hinreissen lassen.
Die Kampfmoral ist entscheidend. Die Ukrainer haben nun natürlich «Oberwasser», solange der westliche Waffen- und Munitionsnachschub anhält, haben sie gute Chancen, die Russen zu besiegen. Die grosse Frage ist, wie es mit der russischen Kampfmoral im Donbass und an der Südfront bei Cherson aussieht. Es ist schwer vorstellbar, dass diese durch die desaströse Niederlage bei Charkiw nicht in Mitleidenschaft gezogen wurde. Ausserdem sind die russischen Soldaten bei Cherson weitgehend vom Nachschub abgeschnitten. Auch das belastet die Moral.
Vor allem die Frage, wie Russland reagiert, welche Asse Putin noch im Ärmel hat. Auch die Frage, wie Russlands Bevölkerung und das Militär mit der Niederlage umgehen. Bereits gibt es Schuldzuweisungen und heftige Diskussionen. Darüber hinaus: Je tiefer die Ukrainer in die bisher von Russland besetzten Zonen vordringen, desto länger werden die ukrainischen Nachschubwege und desto verwundbarer ihre Flanken.
Einiges deutet daraufhin, dass die Ukrainer aber noch nicht alle Kräfte in die Schlacht geworfen haben, sie sind den in der Ukraine stationierten Russen im Moment zahlenmässig ja stark überlegen. Möglicherweise sind sie also in der Lage, an einer dritten Front eine Gegenoffensive zu starten. Sollte es so weit kommen, könnte das dem russischen Expeditionskorps das Genick brechen.
(aargauerzeitung.ch)