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Russland

Ukraine-Krieg: Wie geht es weiter nach den Rückeroberungen

«Eine endgültige Niederlage der Russen rückt in den Bereich des Möglichen»

Die Grosserfolge im Osten ihres Landes steigern die Kampfmoral der Ukrainer. Sie haben jetzt ganz klar die Initiative übernommen. Die Russen hingegen reagieren nur noch. Wie kam es soweit, und was ist der entscheidende Punkt für den weiteren Kriegsverlauf? Eine Einordnung in sieben Punkten.
14.09.2022, 06:1414.09.2022, 10:49
Kurt Pelda / ch media
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Die ukrainischen Truppen haben am Montag weite Teile des russischen Territoriums zurückerobert und sind teilweise bis zur nordöstlichen Grenze vorgedrungen. Ein Soldat lächelt aus einem Militärfahrzeu ...
Die ukrainischen Truppen haben am Montag weite Teile des russischen Territoriums zurückerobert und sind teilweise bis zur nordöstlichen Grenze vorgedrungen. Ein Soldat lächelt aus einem Militärfahrzeug auf der Strasse in dem befreiten Gebiet in der Region Charkiw am Montag, 12. September.Bild: Kostiantyn Liberov/aAP

Den Ukrainern ist es in den vergangenen Tagen gelungen, grosse Gebiete im Osten von den Russen zurückzuerobern. Das hat viele Beobachter überrascht. Wie kam dieser Erfolg zustande?

Einerseits durch eine Finte. Durch die Gegenoffensive der Ukrainer im Süden wurden die Russen dazu verleitet, Truppen aus dem Osten in den Süden zu verlegen. Dadurch haben sie Teile der Front im Osten entblösst. Andrerseits wegen der überlegenen Taktik der Ukrainer. Sie griffen die Russen an deren schwächsten Stellen an und stiessen so schnell vor, dass dem Gegner die Einkesselung zwischen zwei Flüssen drohte. Um ihre Kräfte zu retten, blieb den Russen da nur noch der Rückzug, manchmal auch Flucht genannt.

Welches militärische Material ist für den ukrainischen Vorstoss in der Region um Charkiw entscheidend?

Polen und Tschechien haben der Ukraine rund 250 modernisierte T-72-Kampfpanzer überlassen. Diese spielten eine entscheidende Rolle, zusammen mit Schützen- und Transportpanzern aus anderen westlichen Staaten. Dank ihnen konnten die Ukrainer schnell vorstossen und die Russen in der wichtigen Basis von Izium von hinten angreifen. Grosses Lob haben die Ukrainer auch den Gepard-Flugabwehrpanzern aus Deutschland gezollt. Diese sind mit zwei Oerlikon-Maschinenkanonen ausgerüstet.

epa10137731 German Chancellor Olaf Scholz is shown an anti-aircraft gun tank Gepard, by Juergen Schoch the lead trainer for the Gebhard system, during his visit a training facility of the arms-maker K ...
Auch dank dieser Panzer sind die Ukrainer in der Offensive: Bundeskanzler Olaf Scholz lässt sich einen Flugabwehrpanzer Gepard zeigen. Deutschland hat versprochen 30 solche Panzer zu liefern.Bild: keystone

Warum war die Gegenwehr der Russen nicht stärker?

Viele Frontabschnitte wurden von Soldaten gehalten, welche die Russen in den von ihnen besetzten «Volksrepubliken» im ukrainischen Donbass rekrutiert hatten. Diese Einheiten sind nicht mehr als Kanonenfutter, schlecht ausgerüstet, kaum trainiert, nicht in der Lage, Artillerie- oder Luftunterstützung anzufordern. Dadurch wurden auch Truppen der Ersten Panzergardearmee in eine ungemütliche Lage gebracht. Hätten die russischen Panzersoldaten in Izium länger gekämpft, wären sie von den Ukrainern weiter östlich von den Brücken über den Oskil-Fluss abgeschnitten worden. Die Folge wäre eine Kesselschlacht gewesen.

Ein Bild aus einem vom ukrainischen Verteidigungsministerium zur Verfügung gestellten Video zeigt ukrainische Flaggen im Zentrum von Balakliya, Oblast Charkiw. Die ukrainischen Streitkräfte haben dort ...
Ein Bild aus einem vom ukrainischen Verteidigungsministerium zur Verfügung gestellten Video zeigt ukrainische Flaggen im Zentrum von Balakliya, Oblast Charkiw. Die ukrainischen Streitkräfte haben dort nach eigenen Angaben seit dem 9. September im Rahmen einer Gegenoffensive rund 2500 Quadratkilometer zurückerobert.Bild: Ukraine Defense Ministry / Hando / EPA

Kann man von einer Wende zugunsten der Ukraine sprechen, tritt der Krieg jetzt in eine neue Phase?

Diese Wende konnte man schon vor Wochen beobachten, als das russische Artilleriefeuer spürbar nachliess, weil die Ukrainer mit amerikanischen Himars-Raketen die Munitionsdepots der Russen zerstörten. Das wurde in den meisten Medien aber noch nicht so wahrgenommen. Was wir jetzt sehen, ist die Folge dieser sehr geschickten Vorbereitungsschritte der Ukrainer, die Nachschubwege der Russen empfindlich zu stören. Die Initiative liegt jetzt klar bei den Ukrainern, die Russen reagieren nur noch. Es könnte nun auch gut sein, dass sich im Süden grosse Veränderungen anbahnen. Und wenn die Ukrainer ihren Vorstoss im Osten fortsetzen, wären sie möglicherweise in der Lage, die seit acht Jahren bestehenden Befestigungen an der Front im Donbass zu umgehen und von hinten aufzurollen. Aber das ist Zukunftsmusik. Der Ausgang von Schlachten und wem das Kriegsglück winkt - das lässt sich nicht vorhersagen. Allerdings rückt jetzt eine endgültige Niederlage Russlands in den Bereich des Möglichen.

Für die Russen sind die letzten Tage demütigend. Wie gross ist die Gefahr, dass Putin jetzt massiv mehr Streitkräfte mobilisiert oder es zu Racheakten kommt?

Bisher hat es Putin aus innenpolitischen Gründen gescheut, mobil zu machen. Es kämpften also praktisch nur Freiwillige in der Ukraine. Will der Diktator das ändern, hätte das bestimmt innenpolitische Auswirkungen. Bereits jetzt haben einige Lokalparlamente in Russland Putins Absetzung gefordert. Bei einer Generalmobilmachung würde es Wochen bis Monate dauern, bis die neu rekrutierten Kräfte einsatzbereit wären. Und es würde sich mit Sicherheit um schlecht trainierte, unerfahrene Einheiten handeln. Möglicherweise sind bis dahin die wichtigen Entscheidungen auf dem Schlachtfeld schon gefallen. Ausserdem hatten es Politiker in Russland immer schwer, sich an der Macht zu halten, wenn sie Kriege verlieren. Russische Racheakte hat es bereits gegeben, wie die brutalen Raketenangriffe auf Charkiw zeigen. Zu fragen ist jetzt aber auch, ob sich die Ukrainer in den neu zurückeroberten Gebieten zu Racheakten gegenüber Zivilisten und Kollaborateuren hinreissen lassen.

Russian President Vladimir Putin chairs a meeting on economic issues via teleconference call in Moscow, Russia, Monday, Sept. 12, 2022. (Gavriil Grigorov, Sputnik, Kremlin Pool Photo via AP)
Was tut der russische Präsident Wladimir Putin nun angesichts der Niederlagen seiner Soldaten?Bild: keystone

Welche Rolle wird die Kampfmoral der ukrainischen und russischen Soldaten in den nun kälter werdenden Monaten spielen?

Die Kampfmoral ist entscheidend. Die Ukrainer haben nun natürlich «Oberwasser», solange der westliche Waffen- und Munitionsnachschub anhält, haben sie gute Chancen, die Russen zu besiegen. Die grosse Frage ist, wie es mit der russischen Kampfmoral im Donbass und an der Südfront bei Cherson aussieht. Es ist schwer vorstellbar, dass diese durch die desaströse Niederlage bei Charkiw nicht in Mitleidenschaft gezogen wurde. Ausserdem sind die russischen Soldaten bei Cherson weitgehend vom Nachschub abgeschnitten. Auch das belastet die Moral.

Welche weiteren Faktoren sind für die nächste Phase des Krieges entscheidend?

Vor allem die Frage, wie Russland reagiert, welche Asse Putin noch im Ärmel hat. Auch die Frage, wie Russlands Bevölkerung und das Militär mit der Niederlage umgehen. Bereits gibt es Schuldzuweisungen und heftige Diskussionen. Darüber hinaus: Je tiefer die Ukrainer in die bisher von Russland besetzten Zonen vordringen, desto länger werden die ukrainischen Nachschubwege und desto verwundbarer ihre Flanken.

Einiges deutet daraufhin, dass die Ukrainer aber noch nicht alle Kräfte in die Schlacht geworfen haben, sie sind den in der Ukraine stationierten Russen im Moment zahlenmässig ja stark überlegen. Möglicherweise sind sie also in der Lage, an einer dritten Front eine Gegenoffensive zu starten. Sollte es so weit kommen, könnte das dem russischen Expeditionskorps das Genick brechen.

(aargauerzeitung.ch)

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Nach Gegenoffensive – so freuen sich die Bewohner der befreiten Gebiete
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111 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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techiesg
14.09.2022 07:36registriert März 2018
Ein angeschossener Feind ist der schlimmste Feind. Ich würde den Sieg nicht zu früh verschreien…. Die Vorstellung davon ist aber schon toll! 😉
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DerTaran
14.09.2022 07:46registriert Oktober 2015
Wenn die russischen Soldaten in Kherson tatsächlich kapitulieren, dann war es das für Putins Krieg. Dann kann sich die Ukrainische Armee sogar die Krim zurückholen. Und spätestens das wäre dann das Ende für Putin.
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TuXHunT3R
14.09.2022 10:16registriert September 2021
Nicht zu früh freuen.... Noch ist der Russe nicht draussen! Ich hoffe, dass es so weitergeht, aber ich selber atme erst durch, wenn alle Russen aus dem Land rausgeprügelt wurden.
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