Die Schweiz hat eine «Super-Wahlwoche» hinter sich. Am 20. März wurden in der Waadt, dem drittgrössten Kanton, Regierung und Parlament gewählt. Eine Woche später war Bern an der Reihe, die Nummer 2. Gleichentags fanden in Zürich, dem grössten Kanton, Wahlen in 147 Gemeinden statt (in den Städten Zürich und Winterthur wurde im Februar gewählt).
Nicht alles steht schon fest. Im Waadtland wurde nur ein Mitglied des Staatsrats im ersten Durchgang gewählt. Und Kommunalwahlen haben ihre eigene Dynamik. Dennoch lassen sich aus den drei kantonalen «Schwergewichten» trotz teilweise schwacher Beteiligung – was kein neues Phänomen ist – Schlüsse ziehen über die politische Stimmungslage im Land.
Obwohl Corona und der Ukraine-Krieg die Klimakrise in den Hintergrund gedrängt haben, können die Öko-Parteien weiter zulegen – wobei die GLP stärker jubeln darf als die Grünen. Die politische Mitte kann sich auch dank bürgerlichen Allianzen halten. Die Fusion von CVP und BDP zur «Mitte»-Partei aber hat noch keinen Schub ausgelöst.
Unter Druck sind die Polparteien SVP und SP. Sie haben während langer Zeit in der Schweizer Politik den Ton angegeben. Nun hat sich ihre seit den Wahlen 2019 anhaltende Talfahrt in den drei grössten Kantonen fortgesetzt. Was sind die Gründe?
Bei den Sozialdemokraten ist das Bild durchzogen. In den Exekutiven können sie sich halten oder leicht zulegen (in Zürich holten sie den 2018 verlorenen vierten Sitz im Stadtrat zurück). Bei Legislativwahlen aber erleidet keine Partei so starke Verluste wie die SP. In den 13 Zürcher Gemeindeparlamenten etwa hat sie laut SRF 18 Mandate eingebüsst.
Auch in Bern und Waadt war die SP die grösste Verliererin. Co-Präsident Cédric Wermuth verweist darauf, dass seine Partei gegenüber den eidgenössischen Wahlen 2019 zugelegt habe. Tatsächlich konnte die Abwanderung zu den Grünen gebremst werden, der Effekt der «Klimawahl» hat an Dynamik eingebüsst. Dennoch muss der Trend die Partei beunruhigen.
Die SP reagiert darauf mit hektischem Aktionismus. Sie lanciert Volksinitiativen etwa für mehr Kita-Plätze und ergreift laufend Referenden, mit denen sie teilweise Erfolg hat, zuletzt bei der Stempelsteuer. In Wähleranteile lässt sich dies bislang nicht ummünzen. Gleichzeitig kann sie ihre Widersprüche nur mit Mühe übertünchen, vor allem in der Europapolitik.
Die SP hat das Rahmenabkommen mit der EU bekämpft und die Nein-Parole zur Erhöhung des Schweizer Beitrags an die EU-Grenzschutzbehörde Frontex beschlossen. Ihre Wählerschaft aber ist die europafreundlichste nach jener der Grünliberalen. Das zwingt die Partei zu akrobatischen Verrenkungen, etwa bei der Frontex-Abstimmung am 15. Mai.
Als die Schweiz 2019 über die EU-Waffenrichtlinie abstimmte, warnte die SP eindringlich vor einem Rauswurf aus dem Schengener Abkommen. Jetzt tut sie so, als wäre dies kein Problem. Überhaupt sei sie nicht grundsätzlich gegen Frontex. Als Bedingung für ein Ja fordert sie die Aufnahme von 4000 von der Uno anerkannten Flüchtlingen pro Jahr.
Diese Forderung steht ziemlich schräg in der Landschaft in einem Jahr, in dem die Kantone mit bis zu 300’000 Flüchtenden aus der Ukraine rechnen. Das hat niemand vorhergesehen, aber dass sich die SP ihrer Frontex-Zwickmühle bewusst ist, zeigt etwa die Tatsache, dass sie ausgerechnet den «Ober-Realo» Daniel Jositsch ins Referendumskomitee delegiert hat.
Die Krise fällt auch auf die Führung zurück. «Bei ihren Auftritten und Interviews hören sich die SP-Co-Präsidenten Cédric Wermuth und Mattea Meyer wie zwei Berufsjugendliche an», schnödete die «Weltwoche». Das ist Polemik, trotzdem stellt sich die Frage, wie nahe sich das Duo mit Juso-Vergangenheit an der Lebensrealität der Wählerschaft befindet.
Schon bei den Wahlen 2019 hat die SVP deutliche Verluste eingefahren. Seither geht der Abwärtstrend weiter. In den Zürcher Gemeinden hat sie seit 2010 nur noch verloren. Das ist alarmierend, denn die Zürcher SVP ist der Taktgeber für die nationale Partei, seit Christoph Blocher diese vor 30 Jahren «gekapert» und lange zu spektakulären Erfolgen geführt hat.
Damit ist es vorbei. Anders als die SP schrumpft der rechte Gegenpol in den Exekutiven. In den 13 Zürcher Parlamentsgemeinden verfügt sie noch über neun Regierungssitze, gleich viele wie die Grünen und einen weniger als die Grünliberalen. «Das ist ein Vorgang, der vor ein paar Jahren noch undenkbar gewesen wäre», kommentierte der «Tages-Anzeiger».
Den Aderlass versucht die SVP mit dem gleichen Rezept zu kontern wie die SP: mit permanentem Wahlkampf. Diese lange erfolgreiche Strategie aber zündet nicht mehr und entblösst wie bei der SP Widersprüche. Eisern verteidigt die SVP das Neutralitäts-Dogma, während die Bevölkerung die Sanktionen gegen Russland befürwortet.
Damit riskiert die SVP, als Unterstützerin von Wladimir Putins Angriffskrieg wahrgenommen zu werden. Eine Zeitlang sah es so aus, als ob die Volkspartei bei Wahlen vom Frust über die Corona-Massnahmen profitieren könnte. Diese aber dürften vom Bundesrat am Mittwoch definitiv aufgehoben werden. Und die meisten Leute wollen Corona abhaken.
Gar zu einem kolossalen Flop droht der Versuch der SVP zu werden, die Landschaft gegen die Städte aufzuwiegeln. Er stösst bei der Landbevölkerung auf taube Ohren und in den Agglomerationen auf Ablehnung. Diese haben sich zunehmend urbanisiert, was die SVP bei ihrer auf die Kernstädte zielenden Kampagne übersehen zu haben scheint.
Solche Pleiten gab es früher nicht, sie werfen wie im Fall der SVP ein schiefes Licht auf die Führung. Marco Chiesa ist als Parteipräsident ein Nonvaleur. Fraktionschef Thomas Aeschi ist ein «Nice Guy». Wenn er den Hardliner markiert, wird es schnell peinlich. Zu viel hängt bei der SVP deshalb immer noch von Christoph Blocher ab, der dieses Jahr 82 wird.
Als Fazit lässt sich feststellen, dass die Polparteien nicht nur unter der Themenkonjunktur «leiden». Sie haben strukturelle und personelle Baustellen. Deshalb ist eine rasche Trendwende nicht in Sicht. Bei den nationalen Wahlen in eineinhalb Jahren droht SVP und SP eine weitere Niederlage. Was Fragen zu ihrer Vertretung im Bundesrat aufwerfen könnte.
In den Zürcher Gemeinden haben die ein regelrechtes Debakel eingefahren.
Bauern, Gewerbler und Bünzlis wollen mit Putin und seinen Oligarchen nichts zu tun haben.