Marco Chiesa kann es nicht lassen. «Meine 1.-August-Rede war eine Kritik an der Arroganz, mit der städtische Luxus-Sozialisten dem Rest der Bevölkerung vorschreiben wollen, wie sie zu denken, sprechen und zu leben haben», sagte der SVP-Präsident im Interview mit der NZZ. In besagter Videoansprache hatte sich der Tessiner noch pointierter ausgedrückt.
In heiterem Ton und mit Edelweisshemd unterstellte er den Städten, sie würden eine «Schmarotzer-Politik» auf Kosten der ländlichen Bevölkerung betreiben. Seine Partei will dieses Feld weiter beackern. Die SVP hofft offenbar, mit einer Anti-Stadt-Politik auf dem Land punkten und ihren Negativtrend der letzten Jahre umkehren zu können.
Chiesa mag es wortreich bestreiten, aber die SVP nimmt in Kauf, den Graben zwischen urbaner und ruraler Schweiz zu vertiefen. Er basiert nicht auf Einbildung, wie diverse Abstimmungen der letzten Jahre zeigen. Während der Röstigraben kaum noch eine Rolle spielt, kam es wiederholt zu erkennbaren Bruchlinien zwischen Stadt und Land.
Es lässt sich nicht bestreiten, dass sich die beiden Welten zunehmend fremd geworden sind. Allerdings ist das kein neues Phänomen. Es manifestierte sich schon im frühen 20. Jahrhundert. Auch damals boomten die Städte, sie waren ein Magnet für Zuwanderer aus dem Ausland, was im ländlichen Raum eine Gegenreaktion auslöste.
Damals tauchte der Begriff Überfremdung auf. Eine prägende Figur war Ernst Laur, der während fast 40 Jahren als Direktor den Schweizerischen Bauernverband anführte. Der gebürtige Basler wurde in der Öffentlichkeit als «Propagandist einer nationalkonservativen Bauerntumsideologie wahrgenommen», heisst es im Historischen Lexikon der Schweiz.
«Schweizerart ist Bauernart», lautete sein bekanntester Ausspruch. Allerdings war Ernst Laur kein verbohrter Isolationist. Er war international vernetzt und sprach sich für den Beitritt der Schweiz zum Völkerbund aus, der glücklosen Vorgänger-Organisation der UNO. Damit hatte er entscheidend zum knappen Ja in der Volksabstimmung 1920 beigetragen.
Ihre Sternstunde erlebte Laurs Ideologie mit der Landesausstellung («Landi») 1939 in Zürich, die auch einen Kulminationspunkt der Geistigen Landesverteidigung bildete. Sie war eine Reaktion auf die Bedrohung von aussen durch den Nationalsozialismus und trug dazu bei, dass sich Stadt und Land annäherten. Heute hat man sich auseinandergelebt.
Verschiedene Gründe haben dazu geführt. Aus meiner persönlichen Erfahrung lassen sich vor allem drei Punkte hervorheben.
Zur Landi-Zeit war ein Viertel der Schweizer Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig. Heute sind es zehnmal weniger. Dieser Strukturwandel blieb nicht ohne Folgen. «Früher hatten alle ein Familienmitglied in der Landwirtschaft, man verbrachte seine Ferien auf dem Bauernhof oder ging zur Weinlese», sagte Bundespräsident Guy Parmelin im Interview mit watson.
Das deckt sich mit meiner Erfahrung. Mein Vater war Bauernsohn, mein Götti erfüllte sich im fortgeschrittenen Alter den Traum vom eigenen Bauernhof, auch andere Verwandte waren landwirtschaftlich tätig. Jüngere, urbane Menschen aber haben kaum noch einen Bezug zur bäuerlichen Welt. «Der Kontakt ist verloren gegangen», meinte Parmelin bedauernd.
Fehlender Kontakt bedeutet auch fehlendes Verständnis, von beiden Seiten. Das zeigte sich in aller Schärfe bei der Abstimmung über die Trinkwasser- und die Pestizidinitiative. Die Städter stimmten Ja, ohne Rücksicht auf die Befindlichkeit der bäuerlichen Bevölkerung. Diese reagierte heftig auf die urbane Ignoranz, mit einer enormen Mobilisierung.
Die Hochkonjunktur der Nachkriegszeit führte zur «Landflucht» vieler Stadtbewohner. Aus beschaulichen Ortschaften entwickelte sich die heutige Agglomeration. Lange war sie eine Art Mischwelt. Das Dorf im Zürcher Unterland, in dem ich einen Teil meiner Kindheit verbrachte, war stark bäuerlich geprägt, mit dem dampfenden Miststock neben dem Volg.
Heute gibt es im gleichen Dorf kaum noch aktive Bauern. Ihre Häuser wurden in schicke und teure Wohnliegenschaften umgebaut. Aus einem Bauerndorf wurde eine Agglo-Schlafgemeinde. Das bäuerliche Leben findet ausserhalb statt. Der Siedlungsdruck auf die Agglomerationen hat zu einer Entmischung und damit auch Entfremdung geführt.
Die Armee war lange eine Klammer der – männlichen – Bevölkerung. In Uniform sind zwar nicht alle gleich, aber man kam in Kontakt mit Menschen und Lebensrealitäten, mit denen man im Zivilleben nichts zu tun haben wollte. Die Begegnungen, die ich im Militär machte, waren befremdlich und teilweise erschreckend, aber sie erweiterten den Horizont.
Schon damals haben sich vor allem «linke» Männer via Untauglichkeit dem Militärdienst entzogen. Heute gibt es zusätzlich den Zivildienst. Auch dort kann man Menschen anderer Herkunft und Denkweise begegnen. Dennoch hat der Bedeutungsverlust der Armee einen Beitrag dazu geleistet, dass das gegenseitige Verständnis abgenommen hat.
Die Folgen dieser Entfremdung zeigen sich in verschiedensten Bereichen. Ein aktuelles Beispiel ist die Impfbereitschaft, bei der «ein deutlicher Stadt-Land-Graben» klafft, wie es in der jüngsten Corona-Umfrage der SRG heisst: «In Grossstädten und der Agglomeration gibt es mehr Impfwillige als im ländlichen Raum.» Besonders «impfresistent» sind die Bauern.
Auch die bemerkenswerte und irritierende «5xNein»-Welle bei der Abstimmung vom 13. Juni schwappte fast ausschliesslich durch ländliche Regionen. Muss man deshalb um den nationalen Zusammenhalt fürchten? Die Schweiz ist nicht die USA, bei uns gibt es immer noch viele Gemeinsamkeiten zwischen Stadt und Land. Und Abhängigkeiten.
Auf dem Land mag man gerne über die «Gstudierten» und «Luxus-Linken» in den Städten schnöden. Aber wem wollen die Bauern sonst ihre Äpfel, Eier und Koteletts verkaufen? Exportieren lässt sich die überteuerte Ware kaum. Auch die Bergbahnen, Skilifte oder Hotels sind auf kaufkräftige Städter als Kunden angewiesen. Ihr Geld ist mehr als willkommen.
Umgekehrt müssen auch die Stadt- und Agglobewohner ihre Vorurteile reflektieren. Wer eine naturnahe Landwirtschaft will, soll Bioprodukte kaufen, statt die Bauern mit unausgegorenen Initiativen «bevormunden» zu wollen. Und wie reagieren jene, die den Wolf aus der Ferne idealisieren, wenn er in ihrem Vorgarten auftaucht?
Es macht auch keinen Sinn, die Finanzflüsse in die jeweiligen Richtungen aufzudröseln und in rappenspalterischer Manier gegeneinander auszuspielen. Entgegen der Polemik der SVP verfügt die Schweiz über ein im Grossen und Ganzen gut ausbalanciertes Ausgleichs- und Umverteilungssystem. Die Abgeltungen für die Städte sind kein «historisches Relikt».
So ziehen hochqualifizierte Expats nicht nur wegen den hohen Löhnen in die Schweiz, sondern weil sie in diesem kleinen Land Spitzenklasse in Bereichen wie Bildung, Forschung und Kultur vorfinden. Universitäten oder Opernhäuser sind kein Spleen von linksgrünen, wohlstandsverwahrlosten Städtern, sondern eine kantonale und nationale Aufgabe.
Und schliesslich darf man nicht vergessen, dass die ländlich-konservativen Regionen ein Veto-Instrument gegen die bevölkerungsmässige Dominanz der urbanen Schweiz besitzen: das Ständemehr bei Verfassungsabstimmungen. Linksgrün muss sich schon jetzt darauf einstellen, dass die geplante Volksinitiative gegen den Kampfjet F-35 daran scheitern dürfte.
Vielleicht wird die SVP mit ihrer auf Spaltung abzielenden Strategie kurzfristig Erfolg haben. Auf längere Sicht aber ist sie zum Scheitern verurteilt, denn sie ist zutiefst unschweizerisch. Sie untergräbt das Fundament des Landes, seine Selbstdefinition als «Willensnation», die Bereitschaft, über alle Unterschiede hinweg eine Gemeinschaft bilden zu wollen.
In der Realität führt dies dazu, dass wir eher neben- als miteinander leben. «Die Schweiz hat lange davon gelebt, dass man sich gegenseitig möglichst in Ruhe lässt», sagt Marco Chiesa durchaus zurecht. Und die Entfremdung zwischen Stadt und Land lässt sich nicht einfach so überwinden. Im Idealfall aber wird die SVP-Kampagne dazu führen, dass wir mehr Verständnis füreinander entwickeln. Das wäre nicht im Sinne der Erfinder, aber gut für die Schweiz.
1. Individualisierung
2. Neoliberalismus
3. Social Media (Bubble-bildung)
Eine Analyse ist eine Untersuchung eines aktuell vorherrschenden Umstandes.
Ob wirklich ein Graben besteht, also die Ausgangslage existiert, ist anzuzweifeln, solange im Artikel nicht Belege dafür präsentiert werden.
Das ist bestenfalls ein Kommentar