Wer das Rechtsgutachten liest, dem stockt der Atem. «Es kann ganz grundsätzlich infrage gestellt werden, ob die Neutralitätsverpflichtungen gemäss dem Haager Abkommen überhaupt noch aufrecht sind», steht in den Schlussfolgerungen. Vieles deute darauf hin, dass sie «inhaltlich obsolet» und auf jeden Fall mit dem Friedensrecht der UNO-Charta «nicht vereinbar» seien.
Selbst wenn man davon ausgehe, das Neutralitätsrecht nach Haager Abkommen von 1907 existiere weiter, «muss man zum Ergebnis kommen, dass dieses so extensiv interpretierte Neutralitätsrecht der intendierten Abänderung des Kriegsmaterialgesetzes nicht entgegensteht.»
Brisanter könnte das Fazit von Völkerrechtsprofessor Peter Hilpold von der Universität Innsbruck nicht ausfallen. Er kommt im Gutachten zur Wiederausfuhr von Kriegsmaterial zu zwei Schlüssen: Erstens gilt das Neutralitätsrecht nach Haager Abkommen heute nicht mehr. Und gälte es doch noch, wären - zweitens - Wiederausfuhren trotzdem zulässig.
Es sind SP, Mitte, FDP und GLP, die das Gutachten in Auftrag gegeben haben. Nach dem Scherbenhaufen an der Frühlingssession, als das Parlament zwei Motionen von SP und FDP versenkte oder amputierte, versucht die Ukraine-Koalition die Wiederausfuhr doch noch zu ermöglichen. Es ist ein letzter Rettungsversuch - gegen den Willen des Bundesrats.
Wiederausfuhren von Kriegsmaterial, das die Schweiz an Partnerländer verkauft hat, sind gemäss Artikel 18 des Kriegsmaterialgesetzes verboten. Diesen Artikel will die Koalition mit der parlamentarischen Initiative 23'403 entschärfen. Sie ist ein Kompromiss zwischen den im März gescheiterten Motionen von SP und FDP.
Entstanden war sie am Computer von FDP-Präsident Thierry Burkart, mit SP-Hilfe. Sie besagt: Nichtwiederausfuhr-Erklärungen von Waffen sollen auf fünf Jahre befristet werden. Dazu muss sich das Bestimmungsland verpflichten, Kriegsmaterial nur an Länder weiterzugeben, die nicht schwerwiegend Menschenrechte verletzen und die keine Waffen gegen die Zivilbevölkerung einsetzen.
Die Bestimmungsländer dürfen zudem nicht in einen bewaffneten Konflikt verwickelt sein. Mit einer Ausnahme: Ein Land (wie die Ukraine) muss sich gegen einen Aggressor verteidigen, der einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gestartet hat. Das wiederum soll der Sicherheitsrat feststellen oder - im Fall eines Vetos - die UNO-Generalversammlung mit Zweidrittelmehrheit.
Dieses Vorgehen der UNO-Generalversammlung entspricht der Regelung «Uniting for Peace». Sie wurde am 3. November 1950 im Koreakrieg erstmals angewandt. Es ist eine Art Ersatzkompetenz, die Friedenssicherung zu aktivieren, wenn ein Veto den Sicherheitsrat blockiert. Im Ukraine-Krieg hat die UNO-Generalversammlung am 2. März 2022 die Aggression Russlands über eine Resolution mit 77.9 Prozent der Stimmen aufs Schärfste verurteilt.
Es sei ihm «durchaus bewusst», sagt Professor Hilpold gegenüber CH Media, dass es sich bei der Neutralitätsthematik in der Schweiz um eine «sehr delikate Materie» handle. Die Position der Schweiz steche neutralitätspolitisch hervor: «Sie ist weltweit einzigartig.»
Das «aber» folgt auf dem Fuss. «Es ist heute für sie umso schwieriger, diese einzigartige Position nach aussen zu vertreten», sagt er. «Sie wurzelt nämlich in einer anderen historischen Realität und beruht auf überkommenen und überholten Theoremen, die nicht mehr ins 21. Jahrhundert passen.»
Hilpold ist Neutralitätsspezialist. Er schrieb das Buch «Solidarität und Neutralität im Vertrag von Lissabon» und verfasste den Aufsatz «How to Construe a Myth» (Wie man einen Mythos konstruiert). Hilpold trat 2022 auch an einem internationalen Hearing der beiden aussenpolitischen Kommissionen zur Zukunft der Schweizer Neutralität auf.
Im Gutachten postuliert Hilpold, dass das Haager Abkommen die «wesentliche Grundlage des internationalen Neutralitätsrechts» sei. Damals galten Kriege aber noch als legitim. Die Zahl der Vertragsparteien sei nie über 32 herausgekommen. Das Haager Neutralitätsrecht sei heute nicht mehr kompatibel mit dem Sicherheitssystem der UNO. Sie ist am 24. Oktober 1945 gegründet worden, umfasst heute 193 Staaten und kennt in Artikel 2 Absatz 4 der UNO-Charta ein Gewaltverbot.
«Wie soll ein Neutralitätsrecht, das im Wesentlichen im 19. Jahrhundert geprägt worden ist, in Einklang gebracht werden mit einem System der Kriegsächtung, ja des allgemeinen Gewaltverbots, das auf aktivem Friedenserhalt und entsprechenden Solidarmassnahmen beruht?», fragt Hilpold im Bericht. Seine Antwort: «Der Neutralitätsbegriff ist ab 1945 völlig in den Hintergrund getreten und seine Vereinbarkeit mit dem UNO-Recht erscheint zweifelhaft.»
Hilpold geht noch einen Schritt weiter. Selbst wenn man an den Verpflichtungen des Haager Abkommens festhalte, «kann eine Wiederausführungsbeschränkung nicht auf diese Abkommen zurückgeführt werden». Deshalb habe die Schweiz Handlungsfreiheit.
Uniting-for-Peace-Resolutionen spielen eine zentrale Rolle für diese Argumentationslinie. Stelle die UNO-Generalversamlmung eine qualifizierte Verletzung des Gewaltverbots und einen bewaffneten Angriff fest, schreibt Hilpold, «kann die Schweiz ohne neutralitätsrechtliche Bedenken dem Opfer Beistand leisten». Das sei umso mehr der Fall, als es sich bei der Wiederausfuhr nur um eine indirekte Hilfestellung handle. Ein Vorgehen, das vor dem Internationalen Gerichtshof Bestand habe.
Hilpolds grünes Licht freut die vier Parteien der Ukraine-Koalition. «Das Gutachten zeigt, dass die Wiederausfuhr von Waffen bei einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg sehr wohl vereinbar ist mit der Neutralität», sagt SP-Co-Präsident Cédric Wermuth. Nun sei eines klar: «Wir müssen keinen rechtlichen, sondern einen politischen Entscheid fällen.»
GLP-Fraktionschefin Tiana Angelina Moser sagt, das Gutachten bestätige das grünliberale Verständnis von Neutralität. «Seit der UNO-Charta von 1945 ist ein Angriffskrieg auf einen souveränen Staat klar völkerrechtswidrig. Deshalb leben wir heute in einer ganz anderen Zeit als noch 1907 mit dem Haager Abkommen.»
Die FDP stehe zwar «nicht vollumfänglich hinter allem» im Gutachten, betont Präsident Thierry Burkart. «Für uns ist aber entscheidend: Es zeigt auf, dass die Neutralität mit der parlamentarischen Initiative nicht beschnitten wird. Das haben wir immer gesagt - und das ist eine Genugtuung für uns.»
Als «bemerkenswert» bezeichnet Mitte-Präsident Gerhard Pfister die Aussagen: «Sie zeigen: Die Wiederausfuhr von Waffen ist neutralitätspolitisch kein Problem und die parlamentarische Initiative mit der Neutralität vereinbar. Damit wird die Argumentation des Bundesrats obsolet.»
Dieser Bundesrat stützt sich strikt auf das Kriegsmaterialgesetz. Die Ukraine-Koalition will ihn umdribbeln. Es ist kein Zufall, dass sie das Instrument der parlamentarischen Initiative gewählt hat. Zwar darf da die Regierung ihre Meinung äussern, doch sie spielt im Gesetzesprozess keine Rolle. Das Parlament entscheidet alleine.
«Wir sind sehr unglücklich darüber, dass der Bundesrat eine Neutralitätspolitik verfolgt, die völlig aus der Zeit gefallen ist», sagt GLP-Fraktionschefin Moser. «Wir glauben, dass die Schweiz als Land mitten in Europa einen Teil der Lasten und Verantwortung tragen muss, die ein Angriffskrieg in Europa mit sich bringt.»
Der Testlauf für die parlamentarische Initiative 23'403 folgt am 11. Mai. An diesem Tag ist sie in der sicherheitspolitischen Kommission des Ständerats traktandiert. Erwartet wird ein hauchdünner 7:6-Entscheid. In welche Richtung er ausfällt, scheint völlig unklar. Schlüsselfiguren sind ein SP- und ein FDP-Ständerat: Daniel Jositsch (SP) vertritt bei der Wiederausfuhr eine harte Haltung und Olivier Français (FDP) hatte sich in der Frühlingssession enthalten.
«Mein Eindruck aus den letzten Tagen ist, dass FDP, Mitte, GLP und wir in der SP wirklich eine gemeinsame Lösung finden wollen», sagt Cédric Wermuth. «Das müssen wir jetzt unter Beweis stellen. Lieber spät als nie.»
Auch er selbst habe seine Haltung im Zuge des Kriegs überdenken müssen, erzählt er: «Ein imperialistisch-faschistischer Aggressor wie Putin verändert die Auswahl zulässiger Instrumente, auch aus Sicht eines neutralen Staates. Die Gräuel des Krieges zeigen, dass die Zukunftsvision einer gewaltfreien Welt absolut richtig ist. Aber auch, dass wir den Weg dorthin heute anpassen müssen.»
FDP-Präsident Burkart stellt gar in Aussicht, dass man den Text der Initiative 23'403 «allenfalls noch leicht anpassen» müsse, um Gegnern entgegenzukommen. Die Initiative sei «wahrscheinlich die letzte Chance», denkt Burkart, um bei der Wiederausfuhr von Waffen eine Lösung zu finden. (aargauerzeitung.ch)