Schweiz
Interview

Wie schafft die Schweiz die Energiewende? Interview mit Expertin

Pierre Berger, JUVENT employee in charge of security and maintenance stand on a wind turbine of 150m overall height at the JUVENT power plant on the Mont-Soleil in Saint-Imier, Switzerland on Wednesda ...
Der Windpark auf dem Mont Crosin im Berner Jura ist der grösste der Schweiz.Bild: KEYSTONE
Interview

«Am meisten verwundert mich, dass es beim Wind vorwärtsgeht»

Der Nationalrat debattiert über die künftige Energieversorgung der Schweiz. Fachfrau Almut Kirchner erklärt im Interview, warum der Umbau auf erneuerbare Energien gelingen kann. Und neue AKWs keinen Sinn ergeben.
12.03.2023, 05:3612.03.2023, 17:05
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Der befürchtete Energiekrisenwinter ist fast vorbei. Können wir Entwarnung geben?
Almut Kirchner:
Im Moment sieht es so aus, zumindest für diesen Winter. Wir hatten ziemlich viel Glück. Das System hat sich als sehr robust erwiesen. Das liegt hauptsächlich daran, dass Europa sehr gut vernetzt ist und die Länder sind gegenseitig mit Strom beliefern konnten. Die Gasversorgung hat trotz des russischen Lieferstopps funktioniert, unter anderem weil Holland und Norwegen die Produktion ein wenig hochgefahren haben. Es wurde aber auch Energie eingespart, und das nicht nur freiwillig. Die deutsche Industrie hat ihre Produktion teilweise reduziert. Ob sie zurückkommt, falls sie ausgelagert wurde, ist natürlich unklar. Es steckt auch eine Menge Anstrengungen dahinter, dass wir ohne Strom- und Gasausfall durchgekommen sind.

Könnte man etwas zynisch sagen, dass die Katastrophe des Ukraine-Kriegs in dieser Hinsicht etwas Positives bewirkt hat?
Es war wichtig, darauf hinzuweisen, dass es zu schwierigen Situationen kommen könnte. Dadurch war allen klar, dass etwas geschehen musste. Nun hat sich gezeigt, dass sich das System anpassen kann. Es ist einigermassen robust. Und es hat die Aufmerksamkeit dafür geschärft, dass Energie nicht selbstverständlich ist.

Almut Kirchner, Prognos AG, Energie-Fachfrau
Bild: HO/prognos
Almut Kirchner
Die promovierte Physikerin ist Leiterin Energie- und Klimaschutzpolitik bei der Prognos AG in Basel. Ausserdem war sie Projektleitern der Energieperspektiven 2050+, die im Auftrag des Bundesamts für Energie (BFE) von einem Konsortium mehrer Firmen erarbeitet wurde.

Energie war billig und immer verfügbar, ob aus der Steckdose oder an der Tankstelle. Auch am europäischen Strommarkt konnte man zeitweise kaum noch Geld verdienen.
Deswegen haben sich Effizienz und Alternativen kaum gerechnet. Es ist nicht attraktiv, Energie einzusparen, wenn es billiger ist, eine Kilowattstunde quasi wegzuwerfen. Das gilt für Strom, für Wärme, und der Verkehr ist nochmals ein Thema für sich.

«Die Erträge sind nicht so hoch wie an der Küste. Und trotzdem hilft uns im Winter jedes Megawatt Windstrom im Mittelland.»

Jetzt hat die Politik den Turbo gezündet. Im Herbst wurde eine Solaroffensive beschlossen. Nun soll eine Windoffensive folgen, und nächste Woche berät der Nationalrat den Mantelerlass, die Umsetzung der Energiestrategie 2050.
Es ist überfällig, dass wir bei den Erneuerbaren vorwärts machen. Wenn wir wirklich die Kernkraftwerke nach 50 Jahren Laufzeit abschalten wollen, stehen wir 2035 vor grossen Veränderungen. Wenn es so weitergeht wie heute, werden die Erneuerbaren bis dann bei Weitem nicht so stark zugebaut sein, dass sie einen grossen Teil der Stromversorgung von den Kernkraftwerken übernehmen können. Und falls wir auch noch kompensieren wollen, was in den letzten zehn Jahren verpasst wurde, geraten wir in neue Nadelöhre und Knappheiten hinein. Deshalb stecken wir heute tatsächlich in einer schwierigen Lage.

Welchen Ausweg sehen Sie?
Es ist absolut sinnvoll und wichtig, langfristig gute Rahmenbedingungen zu schaffen, damit Investitionssicherheit besteht. Das sollte der Mantelerlass bewirken, und damit dürfte es wahrscheinlich vorwärtsgehen. Bei der Photovoltaik sehen wir, dass die Stromerzeuger sich plötzlich selbst für grosse Anlagen interessieren. Es werden auch viele Kombi-Anlagen, also Photovoltaik plus Speicher, in den Haushalten gebaut, die wir dringend brauchen. Auch die kleinen Speicher sind notwendig, um möglichst viel von dem produzierten Strom zu nutzen. Und am meisten verwundert mich, dass es beim Wind vorwärtsgeht. Da ging lange nichts.

Warum halten Sie Windkraft für wichtig?
Wir haben in den Energieperspektiven 2050+ mit sehr geringen Potenzialen gerechnet, etwa vier Terawattstunden. Die Akzeptanz von Windanlagen ist ein Problem, und die Schweiz ist ein Binnenland. Die Erträge sind nicht so hoch wie an der Küste. Und trotzdem hilft uns im Winter jedes Megawatt Windstrom im Mittelland. Trotz nur mittelguter Lagen ist die Erzeugung pro installierter Leistung beim Wind höher als bei der Photovoltaik. Wenn wir das Verhältnis zwischen Wind und Solar etwas besser ausgleichen können als bislang geplant, haben wir eine grössere Sicherheit in der Stromversorgung.

Energieperspektiven 2050+
So stellen sich die Energieperspektiven 2050+ die Versorgung der Zukunft vor.grafik: dina Tschumi/prognos

Ein zentraler Satz in den Energieperspektiven lautet: «Die Energieversorgung 2050 besteht fast vollständig aus inländisch produzierter, erneuerbarer Energie.» Ist diese Vorgabe realistisch?
Es ist denkbar, bis 2050 auf jeden Fall. Die Erneuerbaren sind schon heute der kostengünstigste Energieträger. Es stimmt schon, dass man mittelfristig gewisse Hürden überwinden muss. Wir müssen zwischenzeitlich etwas mehr Importe akzeptieren und die Art verändern, wie das Energiesystem gefahren wird. Die Speicher müssen integriert werden, ebenso flexible Ladezeiten von Elektroautos und der flexible Betrieb von Wärmepumpen. Mit den richtigen Rahmenbedingungen ist das möglich. Wir haben es durchgerechnet. Aber es ist kein Autonomie-Szenario. Wir werden auch 2050 im Winter Importe haben und im Sommer exportieren, wie schon heute. Daneben werden wir vor allem im Sommer ein wenig Wasserstoff als zusätzlichen Speicher produzieren.

«Bis 2027 oder 2030 wird man sehen, ob das nötige Ausbautempo erreicht werden kann.»

Und damit können wir die Versorgung bis 2050 sichern?
Etwa 50 Prozent der Stromversorgung stammt bis dann aus den neuen erneuerbaren Energien. Unser Nachbar Deutschland hat das heute schon, und wir haben in der Schweiz viel bessere Möglichkeiten zur Ausregelung und Speicherung als alle anderen europäischen Länder, mit Ausnahme von Österreich und Skandinavien.

Dank der Wasserkraft.
Sie wird gerne vergessen. Dabei liefert sie derzeit über 50 Prozent des Stroms, und sie bietet ein sehr hohes Flexibilitäts-Potenzial.

Dennoch kommt es auf die Erneuerbaren an. Die Nationalratskommission sieht vor, dass sie bis 2035 mindestens 35 Terawattstunden liefern. Das ist ein Kraftakt.
In der Tat, das wäre eine Verfünffachung des heutigen Ausbautempos. Ich bin allerdings nicht so pessimistisch, zumindest bei der Solarenergie. Die Flächenpotenziale sind vorhanden und deutlich grösser als das, was man de facto benötigt, wie die Website sonnendach.ch zeigt. Die Genehmigung von Kleinanlagen ist relativ unproblematisch. Wichtig ist, das Potenzial so weit auszunutzen, dass keine Dach- oder sonstigen Flächen verloren gehen. Wenn man das schnell genug macht und es keine Engpässe bei den Lieferketten gibt, dann ist es zu schaffen. Aber es wäre gut, wenn es schweizweit die gleichen Rahmenbedingungen und Finanzierungsmöglichkeiten gäbe.

Der Mantelerlass
Für einmal darf man getrost von einem Jahrhundert-Entscheid sprechen. Das Bundesgesetz für eine sichere Stromversorgung mit erneuerbaren Energien, auch Mantelerlass genannt, soll nichts weniger als den Grossumbau des Schweizer Energiesystems regeln. Nach dem Ständerat im letzten Herbst ist nun der Nationalrat am Zug. Er hat für die Monstervorlage drei Sitzungstage von Montag bis Mittwoch eingeplant. Der Mantelerlass ist auch der erste Härtetest für den neuen Bundesrat Albert Rösti.

Was ist mit grossen Solaranlagen?
Da ist es aufwändiger. Sie haben längere Genehmigungsverfahren. Aber wir haben Profis, um sie zu bauen. Bis 2027 oder 2030 wird man sehen, ob das nötige Ausbautempo erreicht werden kann.

«Solange die Kernkraftwerke laufen, ist zusätzliche Photovoltaik nicht besonders viel wert am Markt. Eine Stromversorgung aus vorhandener Wasserkraft und vorhandener Kernkraft ist ziemlich kostengünstig.»

Als grösste Bremse beim Ausbau gilt die mangelhafte Vergütung. Sie führt dazu, dass in der Schweiz viele Dachflächen nur teilweise mit Photovoltaik bestückt sind, weil sich die Produktion nur für den Eigenbedarf lohnt.
Wir befinden uns in einer sehr schrägen Situation. Solange die Kernkraftwerke laufen, ist zusätzliche Photovoltaik nicht besonders viel wert am Markt. Eine Stromversorgung aus vorhandener Wasserkraft und vorhandener Kernkraft ist ziemlich kostengünstig. Darum müssten wir jetzt dafür sorgen, dass Photovoltaik ausreichend vergütet wird, damit wir genügend Stromproduktion haben, wenn die grossen KKW-Blöcke vom Netz gehen.

Man könnte es polemisch formulieren: Die Forderung, die Atomkraftwerke möglichst lange laufen zu lassen, behindert eigentlich den Ausbau der Photovoltaik.
Wir sind in einem Dilemma. Es behindert den Ausbau, aber gleichzeitig benötigen wir nach der Abschaltung der Kernkraftwerke alles, was wir jetzt zubauen können, denn der Zubau erfolgt ja stetig über die Zeit und nicht in Sprüngen wie bei Grosskraftwerken. Genau deshalb brauchen wir staatliche Rahmenbedingungen.

Es werden verschiedene Vergütungsmodelle diskutiert, etwa eine gleitende Marktprämie.
Sie ist sicher besser als eine starre Einspeisevergütung. Diese war angebracht während der Technologie-Entwicklung, um Investitionssicherheit zu schaffen. Jetzt brauchen wir Sicherheit und Flexibilität am Markt. Und wir brauchen Signale vom Markt, wenn es zu viel sein könnte und besser gespeichert werden sollte. Dabei helfen Marktprämien.

Was halten Sie von alpinen Solaranlagen? Das Parlament hat im letzten Herbst beschlossen, ihren Ausbau massiv zu beschleunigen.
Rein technisch ist es sinnvoll, auch im Winter Solarstrom zu produzieren. Bei alpinen Anlagen ist der Winteranteil des jährlich produzierten Stroms grösser als bei den Dachanlagen im Mittelland. Dabei spielt auch die Windenergie eine Rolle. Wenn wir mehr davon haben, brauchen wir weniger Dach-Solaranlagen und umgekehrt.

«Die Wasserkraft ist schon sehr stark ausgebaut. Aber jede Staumauer-Erhöhung und jede Turbinen-Ertüchtigung hilft.»

Und welche Rolle spielt der alpine Solarstrom?
Alpine Solaranlagen und die Dachanlagen im Mittelland ergänzen sich eigentlich relativ gut mit der Wasserkraft. Bei einer reinen Produktion aus Dachanlagen lassen sich die Sommer-Überschüsse mit der Wasserkraft nicht vollständig in den Winter speichern. Ergänzt durch alpine Anlagen und Wind wird das Verhältnis besser. Fragen stellen sich bei den Kosten auch für den Bau, aber das werden die Unternehmen schon richtig rechnen.

Sie haben die Windenergie erwähnt. Hier dauern die Bewilligungsverfahren besonders lange. Gewisse Projekte sind seit Jahren blockiert. Was liegt drin?
Das technische Potenzial ist sehr viel grösser als das, was in den Studien des Bundesamts für Energie aus Akzeptanzgründen für umsetzbar gehalten wurde und was wir als Berechnungsgrundlage verwendet haben. Alles, was über den bislang geschätzten vier Terawattstunden liegt, hilft uns extrem. Wenn wir dank beschleunigten Verfahren und Umdenken in der Bevölkerung zehn Terawattstunden schaffen würden, nähme der Druck auf der Photovoltaik massiv ab.

Wie beurteilen Sie das Ausbaupotenzial der Wasserkraft?
Es wurde nie als besonders gross erachtet. Die Wasserkraft ist schon sehr stark ausgebaut. Aber jede Staumauer-Erhöhung und jede Turbinen-Ertüchtigung hilft. Genauso wichtig ist die Kapazität der Unterseen. Das Wasser muss hochgepumpt werden und verfügbar sein, wenn der Solarstrom anfällt. Ich habe den Eindruck, dass der von Bundesrätin Simonetta Sommaruga angestossene Runde Tisch Wasserkraft den Knoten gelöst hat. Die zusätzlichen Kapazitäten helfen beim Sommer-Winter-Ausgleich und bei der Produktion von eigenem Wasserstoff.

Der Speichersee beim Trift-Gletscher soll 85 Mio. Kubikmeter Wasser fassen.
Unterhalb des schmelzenden Triftgletschers im Berner Oberland soll ein neues Speicherkraftwerk gebaut werden. Nicht alle Umweltorganisationen sind darüber erfreut.Bild: Keystone

Diesen Punkt sehen aber die Umweltorganisationen sehr kritisch. Sie fürchten um die Biodiversität, unter anderem wegen geringerer Restwassermengen.
Es braucht einen guten Aushandlungsprozess zwischen den unterschiedlichen Interessen. Natürlich ist die Wasserkraft ein Eingriff in die Landschaft, und natürlich gibt es kostbare Hochmoore und gefährdete Tier- und Pflanzenarten. Andererseits kann es auch nicht sein, nur auf das Bewahren zu setzen. Man muss sich am Runden Tisch zusammensetzen und überlegen, wie man den Ausbau mit möglichst geringen Schäden hinbekommt. Dabei sind die Restwassermengen tatsächlich ein extrem wichtiger Punkt. Und sie werden noch wichtiger, wenn wir unser Wasser in Zukunft anders bewirtschaften müssen als bisher …

… weil die Trockenperioden zunehmen …
… dafür sind Speicher natürlich auch gut. Man wird vermutlich permanente Runde Tische einrichten müssen, um die verschiedenen Interessen auszugleichen.

Aber zumindest die Biotope von nationaler Bedeutung sollte man verschonen.
Dazu dürfen Sie mich als Energiefachfrau nicht fragen (lacht). Aber es ist ein Vorteil der direkten Demokratie, dass die Interessen angemessen artikuliert werden können.

Oft übersehen wird die Energieeffizienz. Die Nationalratskommission setzt auf einen Effizienzdienstleistungsmarkt, wie ihn in anderen Ländern schon lange kennen.
Coole Idee! Effizienz hat erste Priorität, ohne sie sind die Ziele nicht erreichbar. Das beginnt bei den Gebäuden, sonst klappt das mit der grünen Fernwärme und den Wärmepumpen nicht. Sie würden zu viel Strom brauchen oder sich gegenseitig die Umgebungswärme wegfressen. Wir brauchen auch mehr Stromeffizienz in der Industrie, dort gibt es erhebliche Potenziale. Ganz wichtig ist die Verkehrseffizienz. Hier kann man dank der Digitalisierung einiges erwarten. Aber das muss man wollen. Es passiert nicht von selbst, denn es bedeutet, ein eingefahrenes System umzubauen.

Ob das Elektroauto in der Garage geladen werden kann, hängt in der Schweiz vom Willen der Vermieter ab.
Das Laden von Elektroautos wird zur neuen Herausforderung für die Stromnetze.Bild: Keystone

Sie sehen hier einen beträchtlichen Handlungsbedarf?
Erst kommt Effizienz, Effizienz, Effizienz. Dann kommen die Erneuerbaren, die Verkehrswende, die Infrastruktur und ganz zum Schluss der Wasserstoff. Ohne Effizienz bekommen wir das System nicht ausgeregelt. Sie ist komischerweise sehr unsexy, dabei finden wir hier die Potenziale, die am günstigsten und am schnellsten zu heben sind. Aber man kann damit halt keine Pressefotos machen (lacht). Oder nur selten.

«In Deutschland gibt es schon viel erneuerbare Energie, und das Netz ist dennoch eines der stabilsten in Europa. Allerdings haben die Netzbetreiber sehr viel Arbeit.»

Welche Rolle spielen dabei die Smart Grids, also intelligente Stromnetze?
Sie werden bei der Flexibilisierung der Stromversorgung eine grosse Rolle spielen. Wann schaltet man grosse Verbraucher an oder ab? Wann lädt man Elektroautos? In Zukunft wird das im Winter anders sein als im Sommer. Und wie verhält sich eine Batterie in einem kleinen Photovoltaik-System? Wann wird sie geladen, wann speist sie ins Haus ein und wann ins Netz? Das sind wichtige Themen, und dafür werden wir Smart Grids brauchen.

Es heisst ja oft, das Netz werde mit den neuen Energiequellen instabiler.
Das weiss man nicht. In Deutschland gibt es schon viel erneuerbare Energie, und das Netz ist dennoch eines der stabilsten in Europa. Allerdings haben die Netzbetreiber sehr viel Arbeit. Es fallen Überstunden und viel Nachtarbeit an, vor allem bei der Kurzfrist-Prognose und -Planung. Das liegt aber auch in grossen Teilen daran, dass der Ausbau der Netzinfrastruktur vor allem von Norden nach Süden nicht vorankommt. Sonst gäbe es mehr Pufferkapazität im System. Das wirkt sich auch auf die Schweiz aus.

Man muss den Windstrom von der Nordsee zu den Industrieanlagen in Süddeutschland transportieren, um es etwas simpel auszudrücken.
Total simpel und genau richtig! (lacht) Und möglicherweise auch mal umgekehrt im Sommer mit der Sonne. Ein ähnliches Problem gibt es in der Schweiz. Wir haben eigentlich ein sehr gutes Stromnetz, das aber an verschiedenen Stellen modernisiert werden muss. Vor allem die Ost-West-Verbindung sollte ausgebaut werden.

Im Winter sind wir seit langer Zeit auf Stromimporte angewiesen. Werden wir das weiterhin, oder können wir uns davon lösen?
Wir werden sie auch in Zukunft brauchen. In der Übergangszeit wird die Importlücke sogar noch grösser, wobei das auch vom Zubau der Erneuerbaren abhängt. Und von der Frage, ob die Laufzeit der Kernkraftwerke auf 60 Jahre erweitert wird. Man muss vor diesem Thema aber keine Angst haben. Die anderen Länder bauen auch aus, und wir sind aufgrund unserer traditionellen Funktion als Stromdrehscheibe gut angebunden. In Zukunft werden wir viel Windkraft von den europäischen Westküsten erhalten. Teilweise kommen die Importe auch aus den Gaskraftwerken, die in den Nachbarländern zum Netzausgleich und zum Backup gebaut werden, und die langfristig auch mit Wasserstoff betrieben werden.

«Autarkie kann man schon machen, aber das ist nicht besonders sinnvoll und wird teuer, weil dann sehr viel Überkapazitäten gebaut werden müssten, die sehr selten laufen.»

Wie soll das funktionieren?
Wir haben uns das im Detail angeschaut. Es hat sich gezeigt, dass das relativ gut hinkommt, weil die Lastspitzen im europäischen Netz zeitlich verschoben anfallen. Die Gaskraftwerke in den Nachbarländern können durch die Nachfrage aus der Schweiz länger laufen, was für den gesamten Markt gut und effizient ist. Es ist auch günstiger, als wenn wir selber solche Kraftwerke bauen würden. Man kann das schon machen, aber es würde dafür eine politische Entscheidung brauchen. Über die Mechanismen des Markts allein würde sich das derzeit nicht refinanzieren.

Das heisst, die Europäer haben weiterhin ein Interesse daran, der Schweiz Strom zu verkaufen.
Durchaus. Sie haben ein Interesse, die Schweiz als Drehscheibe zu nutzen, und das wird weiterhin so bleiben. Es geschieht schon heute, dass Windstrom etwa aus Frankreich oder Italien reinkommt und nach Deutschland exportiert wird, sogar im Winter. Unsere Winterimporte bekommen wir seit einigen Jahren hauptsächlich aus Deutschland.

Die Branche verlangt ein Strom- oder noch besser ein Energieabkommen mit der EU. Ist das unter diesen Umständen überhaupt noch sinnvoll?
Absolut, es ist dringend nötig, egal, wie es dann heisst. Das ist vielleicht die einzige politische Aussage, die ich hier mache (lacht). Wir sind dermassen eingebunden ins europäische Stromsystem. Autarkie kann man schon machen, aber das ist nicht besonders sinnvoll und wird teuer, weil dann sehr viel Überkapazitäten gebaut werden müssten, die sehr selten laufen. Wir haben ja gerade gesehen, dass das gegenseitige Aushelfen über den Grosshandelsmarkt in der Krise geholfen hat.

General view of the construction site of the third-generation European Pressurised Water nuclear reactor (EPR) in Flamanville, north-western France, January 17, 2013. French utility group EDF said it  ...
Beim neuen Reaktor im französischen Flamanville sind die Zeit- und Kostenpläne völlig aus dem Ruder gelaufen.Bild: X00217

Sie halten nichts von Autarkie-Ideen?
Das hatten wir noch nie, und es hat uns auch nie besonders gestört. Wir hatten seit Jahrzehnten Winterimporte und haben sehr gut an Sommerexporten verdient. Es handelt sich vielleicht um eine gewisse Überreaktion, die ich verstehen kann. Und wir sind mit der flexiblen Wasserkraft mittel- und langfristig sehr gut aufgestellt. Aber aus Sicht der Stromversorger ist der europäische Markt viel zu attraktiv, um nicht daran zu partizipieren, und auch sehr wichtig für die Absicherung. Davon profitiert auch der Schweizer Stromkunde. Autarkie bezahlt entweder der Stromkunde oder der Steuerzahler.

«Macron weiss genau, dass vor 15 bis 20 Jahren kein neues Kernkraftwerk steht. Und was macht er bis dahin? Wind offshore.»

Die Verfechter der Energie-Autarkie setzen unter anderem auf neue Atomkraftwerke. Was halten Sie davon?
Der aktuelle World Nuclear Status Industry Report macht nicht viel Hoffnung, dass neue Kernkraftwerke zur Lösung des Problems beitragen. Die Genehmigungsverfahren dauern mindestens 15 Jahre, wenn es schnell geht, und dann muss es noch gebaut werden und die Finanzierung klar sein. Der Bericht zeigt eindeutig, dass alle neuen Kernkraftwerksprojekte weltweit nicht pünktlich sind und viel teurer werden als geplant. Wenn sich der Staat nicht finanziell beteiligt, wird es zur Zitterpartie. Beispiele gibt es in Grossbritannien oder Finnland. Man muss sich überlegen, ob man dafür Planungskapazitäten und Geld binden möchte. Ein Nebenaspekt sind die Probleme mit der Kühlung durch die zunehmende Sommerhitze und insbesondere Dürren.

Sie halten also nichts von der Renaissance der Kernenergie, die Frankreichs Präsident Emmanuel Macron heraufbeschwört?
Macron weiss genau, dass vor 15 bis 20 Jahren kein neues Kernkraftwerk steht. Und was macht er bis dahin? Wind offshore. Das geht schneller, ist sicher und braucht kein Kühlwasser. Überhaupt sind die Länder in Südwesteuropa prädestiniert für Windenergie an den Küsten und die Produktion von Solarstrom, auch mit konzentrierenden thermischen Anlagen.

Die Studie «Energiezukunft 2050» des Verbands der Schweizerischen Elektrizitätswerke (VSE) setzt stark auf Wasserstoff. Was halten Sie davon?
Es sind ähnliche Ideen und ähnliche Grössenordnungen wie in den Energieperspektiven 2050+. Wir werden Wasserstoff brauchen als ein Element von mehreren, aber es ist nicht das Öl der Zukunft, der Energieträger, der alles löst. Das wird der Strom sein. Für die Produktion von einem Kilowatt Wasserstoff braucht man zwei Kilowattstunden erneuerbaren Strom. Das ist kein Perpetuum Mobile. Er wird nicht ganz billig werden, und es ist nicht ganz einfach, mit ihm umzugehen. Wasserstoff spielt eine Rolle bei der Backup-Stromversorgung, deshalb ist er für die Strombranche so wichtig, in der Industrie und teilweise im Verkehr.

epa10173366 A Mobile hydrogen filling station of the Hydrogen project for rail by German rail operator 'Deutsche Bahn' (DB) and Siemens Mobility on display at the company's test track i ...
Grüner Wasserstoff wird auch in der Schweiz eine Rolle spielen. Aber er ist nicht das Öl der Zukunft.Bild: keystone

Der VSE will den Wasserstoff primär in Gaskraftwerken nutzen, etwa für die Stromproduktion im Winter.
Ja, das wird europaweit so geplant. Es ist die letzte Backup-Option, wenn die volatilen Energieträger gerade weniger produzieren, und wenn kein fossiler Kohlenstoff mehr verbrannt werden darf. Und wenn wir die Wasserspeicher schonen müssen. Das System muss ja wie heute ausgeregelt werden.

«Man sollte vor allem nicht glauben, wir könnten in Zukunft Autos mit Wasserstoff betreiben. Es ist viel sinnvoller und effizienter, den Strom direkt in die Batterie zu stecken.»

Was heisst das konkret?
Der Wasserstoff übernimmt die Funktion der heutigen Spitzenlastkraftwerke, allerdings mit sehr viel weniger Betriebsstunden. Man sollte vor allem nicht glauben, wir könnten in Zukunft Autos mit Wasserstoff betreiben. Es ist viel sinnvoller und effizienter, den Strom direkt in die Batterie zu stecken. Die Fliegerei wird vermutlich mit synthetischen kohlenstoffhaltigen Treibstoffen stattfinden. Beim internationalen Schiffsverkehr ist die Frage, wo es hingeht. Es könnte Wasserstoff sein, aber im Moment wird viel über Ammoniak nachgedacht, weil es einfacher im Handling und in der Speicherung ist.

Zum Schluss möchte ich nicht fragen, ob die Schweiz die Energiewende bis 2050 schaffen kann. Sondern warum sie es schaffen wird.
Weil es vernünftig ist, langfristig kostengünstig und robust. Alle anderen Länder tun es ebenfalls. Das ist vielleicht der wesentliche Punkt – das System wird grossräumig transformiert. Mittlerweile zeigt sich ja, dass neben der Klimakrise die Abhängigkeiten von fossilen Energieträgern und ihren Erzeugerländern sehr dafür sprechen, sich davon so bald wie möglich zu befreien und die Systeme robuster und resilienter zu machen.

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114 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Barth Simpson
12.03.2023 07:23registriert August 2020
Vielleicht der beste Bericht über die Zukunft von Erneuerbaren, den ich je gelesen habe. Diese Frau hat das Wissen und die rethorischen Fähigkeiten, der Politik (auch der SVP) und den Menschen in unserem Land aufzuzeigen, was in Zukunft real möglich ist.

Sehr beeindruckend Frau Kirchner, Danke!
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rodolofo
12.03.2023 08:20registriert Februar 2016
Wenn ich mich in meiner Nachbarschaft umschaue, dann sehe ich, dass da was geht! Insbesondere zwei Nachbarn gehen mit Photovoltaik und Batteriespeicher voran, so dass sie jetzt einen Teil des Stroms für ihre Wärmepumpen-Heizung selber produzieren und übers Jahr hinaus gesehen sogar mehr, als sie gegenwärtig brauchen, so dass bald ihr nächster Schritt folgen wird, mit Wallbox-Ladestation und Elektro-Auto!
Ich sagte ihnen begeistert, dass das, was sie da machen, auch unsere Vision sei. Wir werden also folgen, und mit uns das ganze Land. Hurra!
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Spina_iliaca
12.03.2023 09:44registriert November 2017
Könnte man diese Interview bitte allen In der Politik zur Lektüre geben?
Fachliche Spitze und einfach erklärt!
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