Unvergessen
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13.06.2002: Der Trainer, der «selbst den Mond an die WM bringen würde», verliert sein (bisher) letztes Endrunden-Spiel

Bora Milutinovic: In der ganzen Fussball-Welt bekannt.
Bora Milutinovic: In der ganzen Fussball-Welt bekannt.Bild: EPA
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13.06.2002: Der Trainer, der «selbst den Mond an die WM bringen würde», verliert sein (bisher) letztes Endrunden-Spiel

13. Juni: 2002: Bora Milutinovic taucht an der WM 2002 in Japan und Südkorea mit China 0:3 gegen die Türkei. Es ist der letzte Auftritt des Serben an einer Weltmeisterschaft. Bisher. Vielleicht fragt ja irgendwann der Mond nach ihm.
13.06.2015, 00:0114.06.2015, 11:39
Reto Fehr
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Selten passt die Bezeichnung «Fussball-Globetrotter» so gut wie bei Velibor «Bora» Milutinovic. Der Serbe ist ein Wandervogel par excellence. Sieben Nationalmannschaften und sieben Klubteams in zehn Ländern und auf fünf Kontinenten hat er trainiert. Wer mutig genug ist, kann im Quiz ganz unten sein Glück versuchen und dasjenige Team herauspicken, bei welchem er NIE tätig war.

Für die meisten ist wohl nur eine Randnotiz, was am 13. Juni 2002 geschieht: China verliert an der WM in Japan und Südkorea gegen die Türkei 0:3 und scheidet aus. Zuvor gab es ein 0:2 gegen Costa Rica zum Auftakt und eine 0:4-Schlappe gegen den späteren Weltmeister Brasilien. Null Punkte, 0:9 Tore, so die Bilanz des WM-Neulings. 

Bora – oder eben «Milu» – Milutinovic als Trainer von China bei der WM 2002.
Bora – oder eben «Milu» – Milutinovic als Trainer von China bei der WM 2002.Bild: EPA

Trotzdem sorgte das Team von Trainer Milutinovic schon vor der Endrunde für einen Weltrekord: Den für Bora – oder «Milu», wie er in China genannt wird, da die Sprache kein «R» kennt – war es die fünfte WM-Teilnahme in Serie. Mit fünf verschiedenen Teams.

Das Glück – «Milu» bedeutet «viel Glück» auf Chinesisch – war ihm für einmal nicht hold. Es war das 20. WM-Spiel des Trainers mit der markanten Brille. Das bedeutet hinter Helmut Schön und Carlos Alberto Parreira Rang 3 der ewigen Bestenliste.

In China widmeten sie ihm eine Briefmarke, weil er das Land erstmals an eine WM führte.
In China widmeten sie ihm eine Briefmarke, weil er das Land erstmals an eine WM führte.Bild: EPA

«Gott fragte: Was willst du Bora?»

Und Milutinovic sorgt mit einem Bonmot für Erheiterung: «Ich war einige Tage vor Beginn der WM in einer griechischen Kirche, um Zwiesprache mit Gott zu halten. Er fragte: ‹Was möchtest Du, Bora?›, und ich sagte: ‹Das gleiche schaffen wie Frankreich.› Was soll ich sagen? Gott hielt Wort. Bei der WM 2002 waren Frankreich und China die einzigen Teams, die kein Tor erzielten. Aber ich hatte das Frankreich von 1998 gemeint, das Weltmeister wurde. Tja.»

Diese Einstellung beschreibt Milutinovic vermutlich ziemlich treffend. Er findet immer einen Weg. «Ich habe alles kennengelernt, den Hunger, den Krieg, die Angst, das Elend – deshalb versuche ich immer, die positiven Seiten zu sehen», wird er später einmal im «Magazin» sagen. Als Fussballphilosoph verfügt er neben riesiger Erfahrung auch über extravagante Trainingsmethoden und taktisches Wissen – und ganz viel Lebensweisheit. Bisweilen wirkt der Serbe wie ein Chaot, er ist bekannt wie ein bunter Hund, spricht fliessend Serbisch, Englisch, Französisch und Spanisch. 

Bei dieser Erfahrung kann der Trainer auch mal mitspielen.
Bei dieser Erfahrung kann der Trainer auch mal mitspielen.Bild: EPA

Winterthur, die Stadt «ohne Berge, ohne See, dafür Sulzer, nur Sulzer» 

Als er im September 1940 in Bajina Basta, einem kleinen Dorf bei Belgrad zur Welt kommt, hätte wohl niemand diesen Weg voraussagen können. Während dem Zweiten Weltkrieg stirbt sein Vater, wenig später die Mutter an Tuberkulose. Milutinovic kann sich nicht an seine Eltern erinnern, er wächst bei einer Tante auf und spielt Fussball. Genauso wie seine Brüder Milos und Milorad.

Der Schritt ins Ausland bringt den Fussballer zum FC Winterthur. 1966 kommt der technisch überragende Spielgestalter in der Stadt «ohne Berge, ohne See, dafür Sulzer, nur Sulzer», wie er sie in seiner Erinnerung nennt, an. In 25 Partien erzielt er drei Tore, kann aber nicht überzeugen.

Vielleicht hängt dies auch damit zusammen, dass er von 8 bis 12 Uhr jeweils in einem Radio- und TV-Geschäft arbeitet und Geräte repariert. «Ich hatte keine Ahnung davon», erzählt er Jahre später im «Tages-Anzeiger». Winterthur steigt ab. Im Entscheidungsspiel gegen La Chaux-de-Fonds trifft Bora ausgerechnet auf seinen Bruder Milorad.

Köbi Kuhn und Bora Milutinovic: 1966 spielten sie in der Nationalliga A gegeneinander, 2007 trafen sie sich beim Testspiel zwischen der Schweiz und Jamaika wieder.
Köbi Kuhn und Bora Milutinovic: 1966 spielten sie in der Nationalliga A gegeneinander, 2007 trafen sie sich beim Testspiel zwischen der Schweiz und Jamaika wieder.Bild: EPA

Milutinovic muss nach der Ankunft von Timo Konietzka den Verein als überzähliger Ausländer verlassen. Seine Spielerkarriere beendet er 1976 bei UNAM in Mexiko. Dort wird er ein Jahr später auch gleich seinen ersten Trainerposten annehmen. Es folgt eine Reise kreuz und quer um den Erdball. Milutinovic sagte einmal: «Nennen Sie mich ruhig einen Zigeuner. Warum nicht. Ich habe kein Zuhause, der Globus ist meine Heimat, ich bin ein Vagabund.»

«Irgendwann wird Bora den Mond trainieren»

Die Reisen bringen Milutinovic 1986 erstmals als Trainer an eine WM. Mexiko führt er dabei in die Viertelfinals. 1990 erreicht er die Achtelfinals mit Costa Rica, 1994 übersteht er die Gruppenphase mit den USA, 1998 mit Nigeria. Viermal in Serie mit vier verschiedenen Teams die WM-Gruppenphase überstehen – das ist Rekord.

Obwohl, manchmal war sein Einfluss womöglich nicht riesig. Jayjay Okocha soll 1998, auf Milutinovic angesprochen, gesagt haben: «Ein Trainer ist gut, wenn er sich um die Organisation kümmert. Auf dem Platz regeln wir es dann schon alleine.»

Bora Milutinovic führte Nigeria 1998 zum Gruppensieg, scheiterte im WM-Achtelfinal dann aber an Dänemark.
Bora Milutinovic führte Nigeria 1998 zum Gruppensieg, scheiterte im WM-Achtelfinal dann aber an Dänemark.Bild: EPA

Mit fünf Teams an fünf Weltmeisterschaften, kein Wunder erklärte US-Nationalspieler Alexi Lalas einst: «Irgendwann wird Bora den Mond trainieren. Und der Mond wird sich dann wahrscheinlich für die WM qualifizieren.» Wobei, vielleicht hat Milutinovic dies auch selbst gesagt. Man weiss es nicht mehr genau. Milutinovic quasselt gerne wie ein Buch.

2006 hätte der Serbe seine Serie fast auf sechs WM-Teilnahmen ausweiten können. Beinahe wäre er im Februar 2006 Trainer bei Togo geworden. Aber Otto Pfister machte das Rennen. So blieb für den Weltenwanderer nur der Experten-Job für das chinesische TV. Schon damals sagte er: «2010 bin ich wieder dabei.» Das klappte dann jedoch nicht. Bei Jamaika wurde er 2007 gefeuert, beim Irak 2009. Es war bisher die letzte Anstellung als Coach.

Unterwegs als Botschafter für die WM 2022 in Katar.
Unterwegs als Botschafter für die WM 2022 in Katar.Bild: EPA

2014 war der mittlerweile 74-Jährige auch an der WM in Brasilien. Er arbeitete für Futbol de Primera Radio (ein mexikanischer Sender in den USA) und war als Botschafter für Katar 2022 unterwegs. Ob er doch noch einmal eine Mannschaft an eine Endrunde führen wird? «Ich liebe es, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Ich kann ja nicht viel anderes. Ich höre mir alles an, es ist noch lange nicht fertig mit Bora.» Vielleicht sucht der Mond ja tatsächlich bald einen Trainer. 

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In der Serie «Unvergessen» blicken wir jeweils am Jahrestag auf ein grosses Ereignis der Sportgeschichte zurück: Ob eine hervorragende sportliche Leistung, ein bewegendes Drama oder eine witzige Anekdote - alles ist dabei. 
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