Erst vor zwei Wochen noch wohnte Lyudmyla Vorgul (49) in Saltowka, einem Quartier am nordöstlichen Rand der ukrainischen Millionenstadt Charkiw. Heute lebt die Kosmetikerin mit ihren Söhnen Kyrill (14) und Artur (6) in einem Zehnbett-Zimmer des Asylzentrums im bernischen Lyss. Ihre Tochter Jana (20), ihr Mann Vadim und ihre achtzigjährige Mutter Nine befinden sich noch in der Ukraine.
Lyudmyla, wie geht es Ihnen?
Lyudmyla Vorgul: Es geht mir gut. Ich danke Gott, dass ich hier in der Schweiz mit meinen beiden Buben in Sicherheit bin. Unsere Wohnung in Charkiw ist inzwischen zerbombt. Und ich bete dafür, dass meinen Lieben in der Ukraine nichts passiert.
Haben Sie Nachrichten von ihnen?
Ja, ich habe Kontakt zu meinem Mann, ich habe heute Morgen mit ihm gesprochen. Es geht ihm gut.
Wo ist er? Ihre Wohnung ist ja komplett zerstört.
Vadim wohnt jetzt bei seiner Mutter, in einem anderen Quartier der Stadt. Dort ist noch nicht alles zerstört. Unser Quartier Saltowka ist komplett verwüstet.
Und Ihre Mutter?
Auch sie ist noch in Charkiw. Ich wusste mehrere Tage lang nicht, ob sie noch lebt. Ihr Haus steht in einem Quartier, das vom Militär abgeriegelt ist. Ich sagte meinem Mann: «Vadim, du musst dort schauen gehen.» Aber er kam nicht durch, die Soldaten liessen ihn nicht dorthin. Unterdessen habe ich aber erfahren, dass sie noch lebt. Eine Granate ist in ihre Wohnung eingeschlagen, aber nicht explodiert. Es geht ihr Gott sei Dank aber verhältnismässig gut.
Sie haben noch eine erwachsene Tochter.
Jana, sie ist Architekturstudentin. Sie ist zusammen mit anderen Leuten aus ihrer Architekturfirma in zwei Autos aus Charkiw geflüchtet, Richtung Polen. Heute Morgen um 9 Uhr war sie noch in der Ukraine, in Czernowitz an der rumänischen Grenze.
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Wie haben Sie den Ausbruch des Kriegs erlebt?
Der Krieg begann um 4 Uhr früh. Man hörte Explosionen, aber ich begriff nicht, was los war. Um 5 Uhr gab es weitere Explosionen; nun war mir klar, dass etwas Schlimmes passiert. Wir wohnten im 1. Stock. Im Haus nebenan hatte es Militärpersonal. Ich sah, dass diese Leute aus dem Haus kamen, und rief: «Was ist los?» Sie riefen zurück: «Geh schnell weg, jetzt ist Krieg!»
Wussten Sie da schon, dass Sie Ihre Heimat verlassen würden?
Zuerst dachte ich, wir haben das Jahr 2022, das ist doch nicht möglich. Doch etwas in meinem Herz sagte mir: Du musst weg. Ich wusste, ich liebe meine Heimat, aber jetzt muss ich weg.
Und Sie sind gleich am ersten Tag gegangen?
Nein, erst am dritten Tag. Zuerst haben wir noch gezögert. Vielleicht werden sie nicht so massiv bombardieren, haben wir gedacht. Der Freitag, der 26. Februar, war noch ein relativ ruhiger Tag, doch unser Präsident hat schon den Kriegszustand ausgerufen. Am dritten Tag habe ich dann begriffen, dass es noch schlimmer wird. Und dass die Möglichkeiten, überhaupt noch wegzukommen, immer kleiner werden. Ich habe mich gefragt, wohin sollen wir nur gehen?
Sie haben sich entschlossen, in die Schweiz zu fliehen. Warum dorthin?
Ich war noch nie in der Schweiz, aber ich wusste, dass es ein friedliches Land ist. Wo es keinen Krieg gab, seit langer, langer Zeit. Dorthin wollte ich, weil wir dort sicher sein würden. Ich habe grossen Respekt vor diesem Land und vor den Leuten hier.
Kannten Sie die Schweiz denn schon?
Ein bisschen kenne ich das Land, die Kultur, die Natur, zum Beispiel die Alpen. Es gibt viele schöne Sachen hier. Schon früher hatte ich den Traum, dass ich einmal in der Schweiz leben würde.
Darum die Schweiz?
Es gab auch einen praktischen Grund: Im Fernsehen wurden wir informiert, dass Frauen und Kinder aus der Ukraine jetzt ohne Pass in die Schweiz einreisen können. Mein kleiner Sohn hat einen Pass, der nur bis 2020 gültig war. Auch dies machte die Schweiz zum besten Ziel für unsere Flucht.
Sie sprechen sehr gut Deutsch. Haben Sie die Sprache in der Ukraine gelernt oder waren Sie mal im deutschen Sprachgebiet?
Ich lerne gern. Deutsch habe ich in der Schule gelernt. Diese Sprache gefällt mir. Und ich hatte eine Bekannte in Deutschland, mit ihr habe ich ab und zu gesprochen und so mein Deutsch verbessert.
Am 26. Februar sind Sie also aufgebrochen?
Ich habe meinem Mann gesagt: «Vadim, wir müssen jetzt gehen. Später wird das Chaos so gross sein, dass wir nicht mehr in einen Zug reinkommen.» Wir waren ziemlich früh, und es war dann trotzdem schon voll.
Was haben Sie mitgenommen?
Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie ich gepackt habe. Es war wie in einem bösen Traum.
Sie sind dann zum Bahnhof?
Ja. Am Schalter wollten wir ein Billett kaufen nach Lvov, aber die Frau dort sagte, es gebe keine Billette dorthin. Dann standen wir dort, ratlos. Ich habe gebetet. Da kam eine Frau und fragte, ob wir nach Lvov möchten. Es komme jetzt ein Zug und alle Frauen und Kinder dürften kostenlos mitfahren. Aber es müsse schnell gehen. Da sind wir sofort losgerannt und konnten einsteigen.
Ihr Mann hat Sie begleitet?
Sicher. Artur hat aus dem Zugfenster geschaut und ihn gesehen, wie er da auf dem Bahnsteig stand. Da hat er mich gefragt: «Mama, warum fahren wir allein ohne Papa? Warum bleibt er hier?» Ich habe geweint und ihm gesagt: «Weisst du, er kommt ein bisschen später zu uns.»
Wie war die Situation in Lvov?
Wir kamen um 3 Uhr nachts dort an. Es hatte schon sehr viele Leute dort, und es war kalt. Ich habe erst dann gemerkt, dass der Mantel, den ich mitgenommen hatte, gar nicht warm genug war. Und auch meine Schuhe waren nicht wirklich für diese Reise geeignet. Vor dem Zug nach Przemyśl in Polen hatte es eine riesige Menge von Leuten, die alle versuchten, den Zug zu besteigen. Frauen schrien, Kinder weinten – es waren Szenen wie auf der «Titanic». Viele Leute haben ihr Gepäck auf dem Bahnsteig zurückgelassen, um in den Zug reinzukommen. Im Zug waren Polizisten, die nur Kinder und Frauen reinliessen. Einer rief mir zu: «Dawai!» («Los!») Ich konnte mit den Kindern den Zug besteigen, aber ich musste die Koffer zurücklassen. Als wir dann im Zug einen Platz hatten, konnte ich aber schnell raus und sie doch noch reinholen. Zum Glück!
Wie war die Fahrt nach Przemyśl?
Der Zug war völlig überfüllt. Manche Kinder hatten noch Hunde oder Katzen dabei, ein Mädchen aus unserer Nachbarschaft, das ich kannte, hatte sogar eine kleine Schildkröte in einem grossen Gurkenglas mitgenommen. Helfer haben Wasser gebracht für all die Leute im Zug.
Wie lange hat die Reise gedauert?
Zuerst hiess es 5 Stunden. Ich habe einen Bekannten in Wroclaw in Polen, zu dem ich seit zehn Jahren keinen Kontakt mehr hatte. Ich habe seine Telefonnummer gefunden und ihm geschrieben, ob er mir helfen kann. Er hat tatsächlich geantwortet und mir mitgeteilt, dass er mich in Przemyśl abholen werde. Er brauche jedoch 6 Stunden bis dorthin. Unser Zug ist um 6 Uhr losgefahren, aber um 15 Uhr waren wir erst in einem kleinen Ort an der Grenze und der Zug stand und stand. Irgendwann hiess es dann, dass wir bis zum Abend warten müssten. Am Abend kam dann die Information, dass der Zug auch die Nacht über nicht fahren werde. Und am nächsten Tag blieb der Zug immer noch stehen.
Sie waren die ganze Zeit in diesem Zug? Gab es denn etwas zu essen?
Ja, Leute aus der Umgebung haben uns Wasser, heissen Tee, Suppe, Käse und Brot gebracht. Dann fuhr der Zug endlich weiter und am Abend des zweiten Tages kamen wir in Przemyśl an. Als wir über die Grenze fuhren, verspürte ich ein Gefühl der Erleichterung: Endlich waren wir in Sicherheit!
Wie ging es weiter in Przemyśl?
Mich hat beeindruckt, wie gut die Polen das organisiert haben. Da waren viele freiwillige Helfer; sie haben alle, die aus dem Zug kamen, gefragt: «Brauchen Sie medizinische Hilfe? Wenn ja, dann gehen Sie in diese Richtung. Haben Sie Kleinkinder bei sich? Gehen Sie dorthin!» Alles war effizient und gut organisiert. Jedes Kind hat ein kleines Spielzeug gekriegt. Da hat Artur zum ersten Mal gelacht – zum ersten Mal, seit wir von zuhause wegfahren sind. Dieses Lachen hat mir wirklich sehr viel bedeutet. Und ich habe gesehen, dass auch andere Kinder gelacht haben. Während der ganzen Zeit im Zug haben sie meistens geweint, und das war wirklich schlimm – auch wenn ich sagen muss, dass die Lage in der Ukraine jetzt hundertmal schlimmer ist. Diesen polnischen Helfern möchte ich übrigens wirklich von ganzem Herzen danken!
Dieser Bekannte aus Wroclaw hat tatsächlich auf uns gewartet. Als wir ihn in Przemyśl gefunden haben, hat er gesagt: «Lyudmyla, du hast gesagt, du bist in 6 Stunden da, und jetzt warte ich schon 2 Tage auf dich!» Wir sind zu ihm nach Wroclaw gefahren, und dort haben wir am 1. März den Geburtstag von Kyrill gefeiert. Mit einer kleinen Torte.
Von Wroclaw sind Sie dann nach Deutschland gefahren?
Ja, nach Berlin Ostbahnhof. In Berlin bekam ich ein kostenloses Billett für die Reise in die Schweiz, ich musste dafür meinen ukrainischen Pass vorlegen. Diese Möglichkeit gab es aber nur im Hauptbahnhof; so liess ich meine Söhne am Ostbahnhof und fuhr dorthin. Zurück am Ostbahnhof war dann der direkte Zug in die Schweiz schon abgefahren, deshalb mussten wir einen anderen über Frankfurt am Main nehmen.
Dann sind Sie in die Schweiz gekommen. Sie hatten einen Kontakt hier?
In dieser ersten Nacht nach Kriegsbeginn konnte ich nicht schlafen; ich spürte schon, dass etwas kommt. Ein besonderes Gefühl, das ich nicht erklären kann. Am nächsten Tag habe ich in der Facebook-Gruppe Schweiz-Ukraine ein Foto von mir und meinen Kindern gepostet und geschrieben: «Wir sind aus Charkiw, wir wollen nicht sterben. Bitte helft uns!»
Später, wir waren schon in Polen, hat eine Frau darauf geantwortet. Tatjana ist ursprünglich aus der Ukraine und wohnt schon lange in der Schweiz. Sie hat auf meine Fragen geantwortet und mir Hilfe angeboten. Ich kannte Tatjana nicht, aber ich habe gemerkt, sie will mir helfen. Sie ist eine wunderbare Frau, wie ein Engel! Ich danke Gott, dass es solche Leute gibt.
Sie wohnten in Zürich bei Tatjana?
Ja, wir haben uns am Bahnhof getroffen. Sie hat für uns gekocht, die Betten extra frisch bezogen. Und ihre Tochter ist mit uns in den Zoo gegangen. Dieser Ausflug war ein richtiges Anti-Stress-Programm für meine Kinder. Dafür bin ich Tatjana und ihrer Tochter sehr dankbar.
Danach sind Sie hierher nach Lyss gekommen. Wie ging das – haben Sie sich registrieren lassen?
Wir waren noch nicht registriert, weil – was soll ich sagen? Die Schweiz war noch nicht bereit für diesen Ansturm von so vielen Leuten. Am Donnerstagmorgen waren wir im Asylzentrum in Zürich. Dort hat man uns gesagt: «Sie müssen warten. Sie haben Bekannte hier in Zürich. Sie können dort schlafen, Sie können dort essen.» Sie waren freundlich, aber man hat gemerkt, dass sie uns auf nette Weise loswerden wollten. Sie haben uns auch informiert, dass ab Freitag neue Regeln gelten, nämlich dieser S-Status.
Bürokratie ...
Ich habe nicht gewusst, dass es in der Schweiz Bürokratie gibt ... Am Sonntag sind wir dann nochmal in das Asylzentrum in Zürich gegangen, meine Söhne und ich mit unseren Koffern. Auch diesmal haben sie gesagt: «Aber Sie haben doch hier Bekannte! Sie können bei Ihnen schlafen.» Diesmal haben wir aber darauf bestanden. Ich habe gesagt, dass Tatjana eine gute Bekannte ist, aber eben nicht meine Familie. Ich kann nicht einfach bei ihr wohnen bleiben, ihr Brot essen. Das wollte ich nicht; da muss es eine Grenze geben. Sie sagten jedoch, es gebe keinen Platz mehr, wir müssten auf dem Boden schlafen. Es hatte halt viele Leute, die aus der Ukraine gekommen sind. Wir sind trotzdem geblieben. In der Nacht kam dann ein Bus und es hiess, an einem anderen Ort gebe es noch Plätze. So sind wir hierher gekommen, nach Lyss.
Wie ist es dort – sind Sie mit anderen Frauen und Kindern zusammen oder auch mit Männern?
Alles, da ist auch eine ukrainische Familie mit einem Mann, er ist schon Grossvater. Männer bis 60 Jahre dürfen die Ukraine jetzt nicht verlassen.
Das ist sicher schwierig, Sie haben ja überhaupt keine Privatsphäre.
Aber man ist hier in Sicherheit.
Wie geht es jetzt Ihrem Kleinen, Artur?
Gut. Er hatte schon Angst auf der Flucht; er hat geweint. Und er hat immer auf seine Lippen gebissen. Das war Stress. Darum hat er jetzt etwas entzündete Stellen am Mund. Ich pflege sie mit Crème. Aber es ist schon besser jetzt. Er hat mir gesagt: «Mama, das ist sehr gut, dass wir von diesem Krieg weg sind.»
Und wie kommt Kyrill mit der Situation zurecht?
Kyrill geht es auch gut. Er ist ein passionierter Basketballspieler. Sein Wunsch ist, in der Schweiz einen professionellen Basketball-Klub zu finden.
Wenn man denkt – vor kurzem waren Sie noch zuhause in Ihrer Wohnung, in Ihrem Alltagsleben. Und jetzt sind Sie hier als Flüchtling in einem fremden Land.
Vor kurzem konnten wir uns nicht vorstellen, dass so etwas passieren könnte. Jetzt ist meine Wohnung zerbombt, und wir sind in der Schweiz. Ich habe schon so viel geweint. Wissen Sie, das ist wirklich eine schwierige Entscheidung. Denn dein Herz und deine Gedanken sind in der Ukraine. Aber in Charkiw gibt es praktisch keinen Platz, der nicht beschossen wurde. Überall in der Stadt ist alles kaputt, wie nach dem Zweiten Weltkrieg, mit Hitler. Ich bin Gott dankbar, dass er uns hierher gebracht hat.
Wenn dieser Krieg irgendwann vorbei ist, möchten Sie dann hier bleiben oder zurück in die Ukraine?
Hier in der Schweiz zu leben war einst mein Traum. Und ich wäre wirklich der glücklichste Mensch, wenn ich hier bleiben und auch etwas für dieses Land beitragen könnte. Aber wenn dieser Krieg vorbei ist, möchte ich auch etwas für mein Heimatland tun, es wieder zum Leben bringen und beim Wiederaufbau helfen.
Als Sie geboren wurden, existierte die Sowjetunion noch. Viele Ukrainer haben Verwandte oder Bekannte in Russland. Haben Sie mit Russen über diesen Krieg gesprochen?
Ich habe eine gute Bekannte in Moskau. Sie ist Kosmetikerin wie ich. Wir haben einander an einer Beauty-Messe kennengelernt und haben zusammen Seminare besucht. Sie ist eine nette Frau. Jetzt, wo der Krieg ausgebrochen ist, habe ich ihr geschrieben: «Larissa, was ist passiert? Ich verstehe nicht, wie das geschehen konnte. Russland bombardiert die Ukraine.» Sie hat mir als Antwort dieses Video geschickt. Da habe ich die Mentalität dieser Russen gesehen, wie sie denken. Und ich habe wirklich Angst gekriegt, wirklich Angst. Es gibt viele gute Russen. Nicht alle denken so, aber viele. Und diese Mentalität muss sich ändern, diese aggressive Mentalität.
Nach einer Woche ist leider die Erkenntnis gereift, dass dem nicht so ist. Natürlich gibt es sie, die Kriegs- und Putingegner. Wir sehen sie auf den Strassen, hören, dass sie verhaftet werden. Aber sie sind leider keine Mehrheit. Enge Kontakte drohen zu zerbrechen.