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«Wir werden nicht verlieren» – Selenskyjs historische Rede im O-Ton

«Wir werden nicht verlieren» – Selenskyjs historische Rede im O-Ton

Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskyj hat am Dienstag bei einer Ansprache vor dem britischen Unterhaus den Kampfgeist seines Landes beschworen. Dabei stellte er die berühmte Shakespeare-Frage und spielte auf eine Churchill-Rede an.
09.03.2022, 16:43
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Niemals zuvor habe das Unterhaus einer solchen Ansprache zugehört, sagte der britische Premier Boris Johnson nach Selenskyjs Rede. Dieser hatte am Dienstag den Kampfgeist seines Landes beschworen und London um weitere Unterstützung gebeten. Dabei griff er auf die Shakespear'sche Frage «Sein oder nicht sein» zurück und spielte auf eine berühmte Rede des früheren britischen Premierministers Winston Churchill aus dem Zweiten Weltkrieg an. Das ist die auf Deutsch übersetzte Rede im Wortlaut:

Der ukrainische Pr
Der Präsident der Ukraine, Wolodimir Selenskyj, sprach am Dienstag vor dem britischen Unterhaus.Bild: sda

«Ich wende mich an die gesamte Bevölkerung des Vereinigten Königreichs. An das gesamte Volk Grossbritanniens. Ein grosses Volk. Mit einer grossen Geschichte. Ich wende mich an Sie als Bürger, als Präsident eines ebenfalls grossen Landes. Mit einem grossen Traum. Und einem grossen Kampf. Ich möchte Ihnen von unseren 13 Tagen erzählen. 13 Tage eines erbitterten Krieges, den wir nicht begonnen haben und den wir nicht wollten. Aber wir führen ihn.

Denn wir wollen nicht verlieren, was wir haben, was uns gehört – die Ukraine. So wie Sie Ihre Insel nicht verlieren wollten, als die Nazis sich bereit machten, den Kampf um Ihre Grossmacht, den Kampf um Grossbritannien, zu führen.

«13 Tage lang haben wir uns verteidigt.»

Am ersten Tag um 4 Uhr morgens wurden Marschflugkörper auf uns abgefeuert. Sodass alle aufgewacht sind – wir, die Kinder, wir alle, die Lebenden, die ganze Ukraine. Und seitdem haben wir nicht mehr geschlafen. Wir alle griffen zu den Waffen und wurden zu einer grossen Armee.

Am nächsten Tag wehrten wir Angriffe aus der Luft, zu Lande und zur See ab. Und unsere heldenhaften Grenzsoldaten auf der Insel Zmiinyi im Schwarzen Meer erzählten allen vom Ende des Krieges. Nämlich: wohin der Feind am Ende gehen wird. Als ein russisches Schiff unsere Jungs aufforderte, die Waffen niederzulegen, antworteten sie ihm (...) So entschieden, wie man es im Parlament nicht sagen kann.

«Und wir haben die Macht gespürt. Die grosse Macht unseres Volkes, das den Eindringling bis zum Ende verfolgen wird.»

Am dritten Tag feuerten die russischen Truppen offen auf Menschen und Wohnhäuser, ohne sich zu verstecken. Sie setzten Artillerie und Luftbomben ein. Und das hat uns, hat der Welt endlich gezeigt, wer wer ist. Wer grossartige Menschen sind und wer nur Wilde.

Am vierten Tag – als wir bereits Dutzende von Gefangenen gemacht haben – haben wir unsere Würde nicht verloren. Wir haben sie nicht missbraucht. Wir haben sie wie Menschen behandelt. Denn wir sind auch am vierten Tag dieses schändlichen Krieges menschlich geblieben.

Am fünften Tag ist der Terror gegen uns offenkundig geworden. Gegen Städte, gegen Kleinstädte. Zerstörte Quartiere. Bomben, Bomben, Bomben, wieder Bomben auf Häuser, auf Schulen, auf Krankenhäuser. Das ist Völkermord. Das hat uns nicht gebrochen. Er hat jeden von uns mobilisiert. Und es gab uns ein Gefühl der grossen Wahrheit.

Am sechsten Tag schlugen die russischen Raketen in «Babyn Yar» ein. Das ist der Ort, an dem die Nazis während des Zweiten Weltkriegs 100'000 Menschen hingerichtet haben.

«80 Jahre später tötete Russland sie zum zweiten Mal.»

Am siebten Tag stellten wir fest, dass sie sogar die Kirchen zerstörten. Mit Bomben! Wieder mit Raketen. Sie kennen das Heilige und Grosse nicht, wie wir es kennen.

Am achten Tag sah die Welt, wie russische Panzer auf ein Atomkraftwerk schossen. Das grösste in Europa. Und die Welt begann zu verstehen, dass dies Terror gegen alle ist.

Am neunten Tag hörten wir einem Treffen der NATO-Länder zu. Ohne das gewünschte Ergebnis für uns. Ohne Mut. So hatten wir das Gefühl – ich will damit niemandem zu nahe treten – dass Allianzen nicht funktionieren. Sie können nicht einmal den Luftraum schliessen. Deshalb müssen die Sicherheitsgarantien in Europa von Grund auf neu aufgebaut werden.

Am zehnten Tag protestierten die unbewaffneten Ukrainer überall in den besetzten Städten. Sie haben gepanzerte Fahrzeuge mit blossen Händen gestoppt.

«Wir sind unzerstörbar geworden.»

Am elften Tag – als bereits Wohngebiete bombardiert wurden – als alles durch Explosionen zerstört wurde, als Kinder aus einer beschädigten Kinder-Onkologieklinik evakuiert wurden, begriffen wir: Die Ukrainer wurden zu Helden. Hunderttausende von Menschen. Ganze Städte. Kinder, Erwachsene – alle.

Am zwölften Tag – als die Verluste der russischen Armee bereits über 10'000 Tote betrugen – tauchte auch der General in dieser Zahl auf. Und das gab uns Zuversicht: Für alle Verbrechen, für alle schändlichen Befehle wird man sich noch vor dem Internationalen Gerichtshof oder den ukrainischen Waffen verantworten müssen.

«Am dreizehnten Tag starb ein Kind im von Russland besetzten Mariupol. Es ist an Dehydrierung gestorben.»

Sie erlauben den Menschen weder Nahrung noch Wasser. Sie haben es einfach blockiert – und die Menschen sind in den Kellern. Ich glaube, alle haben es gehört: Die Menschen haben dort kein Wasser!

In den 13 Tagen der russischen Invasion wurden 50 Kinder getötet. 50 grosse Märtyrer. Das ist furchtbar! Das ist Leere. Anstelle von 50 Individuen, die leben könnten, haben sie sie weggenommen. Sie haben sie einfach weggenommen.

Grossbritannien! Die Ukraine hat das nicht gesucht. Sie hat nicht nach Grösse gestrebt. Aber sie ist in diesen Tagen des Krieges gross geworden.

Eine Ukraine, die trotz des Terrors der Invasoren Menschen rettet. Die die Freiheit verteidigt, trotz der Schläge einer der grössten Armeen der Welt. Verteidigt trotz des offenen Luftraums, immer noch offen für russische Raketen, Flugzeuge, Hubschrauber.

«‹Sein oder nicht sein› Sie kennen diese Shakespeare'sche Frage gut.»

Vor 13 Tagen konnte diese Frage noch über die Ukraine gestellt werden. Aber jetzt nicht mehr. Sie lautet definitiv: sein. Natürlich frei zu sein. Und wenn nicht hier, wo sonst soll ich Sie an die Worte erinnern, die Grossbritannien bereits gehört hat. Und die wieder aktuell sind.

Wir werden uns nicht ergeben, wir werden nicht verlieren. Wir werden den ganzen Weg gehen. Wir werden auf See kämpfen, wir werden in der Luft kämpfen, wir werden unser Land verteidigen, koste es, was es wolle.

Wir werden in den Wäldern kämpfen, auf den Feldern, an den Stränden, in den Städten und Dörfern, auf den Strassen, wir werden in den Bergen kämpfen.

(...) Und ich möchte hinzufügen: Wir werden an den Ufern des Kalmius und des Dnjepr kämpfen! Und wir werden uns nicht ergeben!

Natürlich mit Ihrer Hilfe, mit der Hilfe der Zivilisation der grossen Länder. Mit Ihrer Unterstützung, für die wir dankbar sind und auf die wir uns verlassen. Und besonders dankbar bin ich Ihnen, Boris, mein Freund!

Verschärfen Sie die Sanktionen gegen den terroristischen Staat.

Erkennen Sie ihn endlich als terroristischen Staat an. Finden Sie einen Weg, unseren ukrainischen Himmel sicherzumachen. Tun Sie, was Sie können. Tun Sie, was Sie tun müssen. Tun Sie, wozu die Grösse Ihres Staates und Ihres Volkes Sie verpflichtet.»

Quelle: https://www.president.gov.ua

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94 Kommentare
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*Butterfly*
09.03.2022 16:54registriert Februar 2022
Was für ein Präsident!
Wahrlich eine historische Rede.
Chapeau!
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Paulsson
09.03.2022 17:27registriert März 2020
Mit einer einzigen Rede hat Selenskyj mehr geleistet als Putin in seiner gesamten Amtszeit...
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Staedy
09.03.2022 17:15registriert Oktober 2017
Russland gehört auf die Liste der Terrorstaaten.
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