Vor drei Tagen versuchte das Rote Kreuz, Hilfsgüter durch einen Fluchtkorridor nach Mariupol zu bringen. Doch an einem ersten Kontrollposten wird klar: Ein Durchkommen ist unmöglich. Der für Zivilisten gedachte Durchgang, eine Schutzzone für Mütter, Kinder, Alte und Kranke, war vermint.
Als zwei Tage später erneut ein Fluchtkorridor eingerichtet wird, wird er trotz beschlossener Waffenruhe beschossen. Die Zivilbevölkerung muss weiter in der Stadt ausharren. Ohne funktionierende Kanalisation, ohne Wasser, Strom, Lebensmittel – ohne Heizung.
Seit Ende Februar, je nach Definition seit dem 25. oder dem 28., ist die Stadt umzingelt. Strom, Wasser und Telefonleitungen stellten die russischen Belagerer am 2. März ab – vor einer Woche. Seither schöpfen die Einwohner Wasser aus den Bächen oder schmelzen Schnee, um zu überleben.
Der #Ukraine-Krieg überfordert uns alle, auch wir können mit unserer Hilfe nur einen Bruchteil der Bedürfnisse abdecken.
— Ärzte ohne Grenzen (@MSF_austria) March 5, 2022
Wir werden aber öffentlich machen, was wir vor Ort sehen. Etwa durch diese Aufnahmen unserer Kolleg:innen, die in #Mariupol festsitzen. Aufgenommen am 3.3. pic.twitter.com/lQpb78Yy7b
Vor zwei Tagen meldete das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK), dass sämtliche Hilfsgüter und Versorgungsmittel in der Stadt verteilt worden seien. «Die Situation ist apokalyptisch», sagte Sprecher Ewan Watson am Dienstag in Genf. Russland wie auch die Ukraine hätten die Bedingungen für eine sichere Evakuation der Zivilbevölkerung nicht geschaffen.
430'000 Einwohner hat die Hafenmetropole am Asowschen Meer in Friedenszeiten – so viele wie Zürich. Doch Friedenszeiten kennen die Einheimischen schon länger nicht mehr. Bewaffnete Konflikte schwelen seit Jahren.
2014 begann nach der Besetzung der Stadtverwaltung und dem Angriff eines Militärpostens durch prorussische Separatisten der Kampf um Mariupol. Die ukrainischen Sicherheitskräfte, unterstützt vom rechtsextremen Regiment Asow, blieben militärisch siegreich. Wirtschaftlich ging der Abstieg für die einst blühende Hafenmetropole aber weiter – auch aufgrund russischer Schikanen. Zum Beispiel nach der Fertigstellung der Krim-Brücke 2018, als russische Behörden begannen, passierende ukrainische Schiffe genauer unter die Lupe zu nehmen. Laut Berichten sollen sich solche Kontrollprozesse bis zu einer Woche hinausgezögert haben.
Die wirtschaftliche Lage schlug sich auch auf die Bevölkerung nieder. Seit der Unabhängigkeit der Ukraine 1991 verliessen über 10 Prozent der Bewohner Mariupol. Die Gräben in der Gesellschaft blieben bestehen. 2002 waren 49 Prozent der Einwohner UkrainerInnen. 44 Prozent Russinnen und Russen.
More shelling in Mariupol. Just spoke with my mom. She said goodbye. Her part of town has been evacuated, but she is staying. She said: My life started in poverty and it ends in war. Enjoy peace. Love you all! pic.twitter.com/uZZ16Ffi1l
— Andrei Kirilenko (@AKirilenko_True) February 27, 2022
Die Zugehörigkeit der Zivilbevölkerung spielt aktuell keine Rolle. Jetzt wollen alle nur noch in Sicherheit. Das ist auch heute Mittwoch nicht möglich. Der erneute Versuch, einen humanitären Korridor zu installieren, scheiterte: «Russland hält weiterhin mehr als 400'000 Menschen in Mariupol als Geiseln, blockiert humanitäre Hilfe und Evakuierung», schrieb der ukrainische Aussenminister Dmytro Kuleba auf Twitter. Der Sprecher der prorussischen Kräfte, Eduard Bassurin, versicherte hingegen, die Menschen würden Mariupol so schnell wie möglich aus eigener Kraft verlassen. Er wiederholte damit indirekt den Vorwurf, die Ukraine würde die Bevölkerung an der Flucht hindern.
Für die sechsjährige Tanja kommt jede Hilfe zu spät. Das Mädchen konnte vor wenigen Tagen nur noch tot unter den Trümmern eines Wohnhauses geborgen worden. Nicht die Wucht einer Detonation oder ein Projektil hatte es getötet. Nach Angaben des ukrainischen Präsidenten Selenskyj war die kleine Tanja verdurstet.
Die Geschichte aber wird sie richten und ächten.
Und das Land, das der Irre zu einem Grossreich erheben wollte, wird in der Bedeutungslosigkeit verschwinden.