Ein 17-jähriger Jugendlicher namens Kyle Rittenhouse begibt sich in die Kleinstadt Kenosha im Bundesstaat Wisconsin. Er ist mit einer AR-15 bewaffnet, einer halbautomatischen Waffe, die eigentlich für militärische Zwecke gedacht ist. In Kenosha ist kurz zuvor ein junger Schwarzer von Polizisten bei der Verhaftung mit mehreren Schüssen schwer verletzt worden.
In den USA finden seit Wochen Demonstrationen der Black-Lives-Matter-Bewegung statt. Ausgelöst worden sind sie durch den schrecklichen Tod von George Floyd. Der schwarze Mann wurde von einem weissen Polizisten vor laufenden Smartphone-Kameras erwürgt.
Die Demonstrationen in Kenosha werden gewalttätig. Der Teenager will einen Autohändler vor Plünderungen beschützen. Mit seiner umgehängten AR-15 ist er jedoch eine Provokation für die Demonstranten. Er wird verfolgt, gerät in Panik und erschiesst zwei Menschen. Einen dritten verletzt er. Dann stellt er sich der Polizei. Er wird verhaftet, kommt aber später gegen eine Kaution von zwei Millionen Dollar frei. Das Geld stammt von Sympathisanten aus der rechtsextremen Szene.
Die Staatsanwaltschaft klagt Rittenhouse in sieben Punkten an. Dieser plädiert auf unschuldig und macht Selbstverteidigung geltend. Der Prozess ist abgeschlossen, das Urteil zum Zeitpunkt, als dies geschrieben wird, noch nicht bekannt. Es wird befürchtet, dass es – wie immer es ausfällt – neue Demonstrationen auslösen wird. Die Nationalgarde steht bereit.
So viel zu den Fakten. Der Rittenhouse-Prozess ist jedoch weit mehr als ein Strafverfahren. Er ist zu einem Symbol geworden für die immer hitziger werdenden politischen Auseinandersetzungen in den USA.
Obwohl seine Opfer weiss sind, ist Rittenhouse für die Progressiven ein typischer Vertreter der «white supremacists», ein Weisser, der sich berufen fühlt, das Gesetz in die eigenen Hände zu nehmen und Schwarze nötigenfalls mit Gewalt zur Räson zu bringen.
Für die Rechten ist Rittenhouse ein Held. Er hat das getan, was eigentlich die Ordnungskräfte hätten tun müssen: die Bevölkerung vor den Demonstranten zu schützen.
Um diesen angeblichen Teenager-Helden ist ein wahrer Kult entstanden. Seit Tagen berichtet Fox News über nichts anderes mehr. Der Tenor dieser Berichterstattung lässt sich wie folgt zusammenfassen: Endlich wird den linken Chaoten die Stirn geboten. Rittenhouse ist ein Patriot, genauso übrigens wie die Helden, die am 6. Januar das Kapitol gestürmt haben. Während man die Chaoten der Black-Lives-Matter-Bewegung gewähren lässt, werden diese Patrioten von der Justiz verfolgt und eingesperrt.
Ahmaud Arbery war ein 25-jähriger Schwarzer, der in einer vorwiegend von Weissen bewohnten Vorstadt von Atlanta (Bundesstaat Georgia) joggen ging. In diesem Viertel hat es mehrere Einbrüche gegeben. Deshalb hat sich eine Bürgerwehr gebildet. Drei Männer glaubten, Arbery sei ein Einbrecher und wollten ihn der Polizei übergeben.
Sie verfolgten ihn mit ihrem Truck und stellten ihn. Dabei kam es zu einem Handgemenge, bei dem Arbery erschossen wurde. Es wurde kein Diebesgut bei ihm gefunden, auch keine Waffe. Trotzdem machen die drei Männer wie Rittenhouse Selbstverteidigung geltend. Travis McMichael, der die tödlichen Schüsse abgegeben hat, spricht von einer Situation, in der es «um Leben und Tod» ging.
Der Prozess läuft noch. Er steht unter keinem guten Stern. Obwohl rund ein Viertel der Bevölkerung im betreffenden Bezirk schwarz ist, ist dies bloss ein einziger Geschworener. Ein Verteidiger der Angeklagten beschwerte sich über schwarze Pfarrherren im Gerichtssaal. Die Familie des Opfers hat sie gebeten, sie zu begleiten.
So weit zu den Fakten. Doch auch hier geht es um weit mehr. «Die Rassenfrage hängt über diesen Prozessen», stellt Charles Blow, Kolumnist in der «New York Times» fest. «Sie drehen sich um weisse Bürgerwehren, die einen jungen Schwarzen verfolgt und getötet haben, und um einen jungen Mann, der zwei Menschen erschossen hat, die in Solidarität mit Black Lives Matter demonstriert haben.»
Stellt euch vor, Nationalrat Andreas Glarner würde ein Video drehen, in dem er als Comic-Figur Jaqueline Badran ermordet und Bundesrat Alain Berset mit einem Schwert angreift. Genau dies hat Paul Gosar, republikanischer Abgeordneter aus dem Bundesstaat Arizona, getan. Er hat ein Kurzvideo getweetet, in dem er die progressive Abgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez ersticht und einen Mordanschlag auf Präsident Joe Biden versucht.
Das sei mehr als kindisch, das sei brandgefährlich, befand daraufhin Nancy Pelosi, die Mehrheitsführerin der Demokraten im Abgeordnetenhaus. Deshalb liess sie eine Abstimmung durchführen, die zu einer öffentlichen Rüge an die Adresse von Gosar führte. Gleichzeitig wurde er aus allen Komitees verbannt.
Gosar ist kein unbeschriebenes Blatt. Seit 2010 sitzt er im Abgeordnetenhaus und wurde als Vertreter der Tea Party gewählt. Er hat sich auch als einer der eifrigsten Trump-Helfer profiliert, glaubt an die Big Lie und hält Ashli Babbitt, die QAnon-Anhängerin, die beim Sturm auf das Kapitol erschossen wurde, für eine Märtyrerin.
Mehrmals hat Gosar Konferenzen von White Supremacists besucht, verschiedene Videos von ihm wurden von YouTube geblockt. Selbst seine fünf Geschwister sind von Gosar angewidert und warnen öffentlich vor ihm.
Eigentlich wäre es Sache von Kevin McCarthy, dem Minderheitsführer der Republikaner im Abgeordnetenhaus, gewesen, Gosar zur Vernunft zu bringen. Er dachte nicht daran. Stattdessen benutze er das Verfahren dazu, die Demokraten zu beschuldigen, sie würden versuchen, die Meinungsfreiheit einzuschränken.
Gleichzeitig versuchen die Republikaner Gosars Verhalten zu verniedlichen. So schreibt etwa das «Wall Street Journal»: «Mr. Gosar, der 63 Jahre alt ist, sich aber wie ein Teenager auf TikTok benimmt, verdient Spott, keine Rüge.»
Darauf entgegnet die betroffene Alexandria Ocasio-Cortez: «Findet irgendjemand in diesem Saal dieses Verhalten angemessen? Würdet ihr Darstellungen von Gewalt gegen Frauen und gegen Kollegen bei euch zu Hause erlauben? Sollte so etwas in einer Schulpflege vorkommen? Oder in einem Stadtrat? Oder in der Kirche? Und wenn es dort nicht akzeptabel sein sollte, warum dann hier?»
Die drei geschilderten Vorfälle sind typisch für das aktuelle politische Klima in den USA; und sie sind keine Einzelfälle. So könnte man auch das Verhalten von Steve Bannon erwähnen. Trumps ehemaliger Wahlkampfmanager macht seine Weigerung, vor einem Kongress-Ausschuss zu erscheinen, zum Vorwand für ein übles Politspektakel. Oder die Verurteilung des QAnon-Schamanen, der soeben eine Gefängnisstrafe von 41 Monaten kassiert hat.
Weit bedenklicher ist jedoch das Verhalten der Grand Old Party. Die Republikaner haben sehr gute Chancen, bei den Zwischenwahlen in einem Jahr die Macht im Kongress zurückzugewinnen. Und sie machen schon jetzt deutlich, was sie dann zu tun gedenken.
So droht McCarthy offen, dass «in Zukunft ein neuer Standard» gelten werde. Der Abgeordnete Jim Banks wird deutlicher: «Wenn wir in einem Jahr die Mehrheit zurückgewinnen, haben wir die Pflicht als Republikaner, alle Mitglieder des Ausschusses wegen Machtmissbrauchs zur Verantwortung zu ziehen.»
Mitch McConnell, Minderheitsführer im Senat, zielt ebenfalls auf Rache. «Lasst es mich allen 99 Kollegen klar und deutlich sagen: Niemand kann sich heute vorstellen, wie der Senat dann aussehen wird.»
Nicht zufällig ist Viktor Orban zu einer Lichtgestalt der amerikanischen Konservativen geworden. Die Republikaner bereiten immer offener das Terrain vor für eine neue Ära. Eine Ära, in der wie in Ungarn die Demokratie über Bord geworfen und durch einen autoritären Staat ersetzt wird.