«Seit der Finanzkrise sprechen alle von der Ungleichheit – aber niemand unternimmt etwas dagegen», seufzte einst der Ökonom Branko Milanovic in einem Interview mit watson. Er gehört zu den weltweit führenden Experten auf dem Gebiet der Einkommensverteilung. Seine legendäre «Elefantengrafik» hat aufgezeigt, wie der Mittelstand der entwickelten Länder unter der Globalisierung gelitten hat.
Milanovic ist nicht der einzige, der vor der wachsenden Ungleichheit warnt. Heerscharen von Ökonomen stimmen ihm zu, nicht nur Linke wie Thomas Piketty, dessen Wälzer «Das Kapital im 21. Jahrhundert» zu einem überraschenden Bestseller wurde. Selbst liberale Volkswirte zeigen sich darüber besorgt, dass die Einkommensschere sich immer weiter öffnet. So warnt etwa der «Economist» in seiner jüngsten Ausgabe davor, dass ein überholtes Steuersystem die Ungleichheit beschleunigt.
Die Schweiz gilt als Steuerparadies, und sie hat auch pro Kopf gesehen die höchste Anzahl von sogenannten «High Net Worth Individuals». Doch die Superreichen sind nur ein Rahmtupfer auf dem eidgenössischen Kuchen. Erstaunlicherweise hat die Schweiz den allgemeinen Ungleichheits-Trend nicht mitgemacht. Anders als etwa in Deutschland musste der Schweizer Mittelstand keine Lohneinbussen hinnehmen.
Die flankierenden Massnahmen sind Teil der bilateralen Verträge, welche die Schweiz mit der EU abgeschlossen hat. Sie schützen die einheimischen Arbeitnehmer vor einem Lohndumping aus dem EU-Raum. Besonders davon profitieren Bauarbeiter, aber auch das Servicepersonal und andere Dienstleister.
Die EU hat die flankierenden Massnahmen nur murrend akzeptiert. In einem neuen Rahmenvertrag zwischen der Schweiz und der EU sollen sie nun aufgeweicht werden. Hauptsächlich soll die Acht-Tage-Regel fallen. Sie besagt, dass eine Frist von acht Tagen verstreichen muss, bis ein Arbeiter aus der EU in der Schweiz tätig werden darf.
Am 1. Dezember 2009 traten die Verträge von Lissabon in Kraft. Es handelt sich dabei um eine Gesamtreform der Gesetze innerhalb der EU. Das Vertragswerk wurde auf dem Höhepunkt der Globalisierungs-Euphorie ausgehandelt. Von Ökonomen wie Dani Rodrik wurde es deshalb als Ausfluss einer schädlichen Hyperglobalisierung kritisiert und von den Linken als neoliberales Machwerk verurteilt.
Der Geist der Verträge von Lissabon weht auch im Versuch, die flankierenden Massnahmen mit der Schweiz aufzuweichen. Dagegen wehrend sich die Gewerkschaften und die Sozialdemokraten. Lieber kein Rahmenabkommen als eines, dass auch hierzulande ein Lohndumping möglich macht, lautet ihre Haltung, und sie haben auch klar gemacht, dass sie diesbezüglich zu keinen Kompromissen Hand bieten werden.
Die kompromisslose Haltung hat den Gewerkschaften und der SP über das Wochenende eine wahre Flut von negativen Kommentaren eingebracht. Die Linke begebe sich ins «Lotterbett mit der SVP» wurde bemäkelt. Mein watson-Kollege Peter Blunschi warnt gar vor einem «linken Blocherismus».
Luzi Bernet, Chefredaktor der «NZZ am Sonntag», beschwört derweil ein wahres Horror-Szenario herauf: «Reicht sich die Schweizer Linke allmählich in die Gruppe jener europäischen Parteien und Bewegungen ein, die einen harten sozialistischen und gleichzeitig europaskeptischen Kurs fahren?», fragte er besorgt. «Erhalten Sarah Wagenknecht, Jeremy Corbyn und Jean-Luc Mélenchon bald einen Schweizer Partner?»
Treten wir einen Schritt zurück und machen wir ein kleines Gedankenexperiment: Stellen wir uns vor, die EU würde im Rahmen eines neuen Abkommens verlangen, wir sollten unsere Umweltgesetze aufweichen. Wir müssten also mehr Verschmutzung unserer Seen und unserer Luft akzeptieren, weil das die Polen und Rumänen ebenfalls täten. Kein Mensch würde ernsthaft auf eine solche Forderung eintreten.
Warum sollten wir es also bei den flankierenden Massnahmen tun? Die wachsende Ungleichheit ist zusammen mit der Klimaerwärmung die grösste Bedrohung in der aktuellen Zeit. Das ist inzwischen zu einer Binsenwahrheit geworden. Konzessionen im Kampf dagegen zu machen, ist unsinnig, genauso wie es unsinnig wäre, Konzessionen im Kampf gegen den CO2-Ausstoss zu machen.
In der Ungleichheits-Frage ist ein «eidgenössisches Sonderzüglein» absolut gerechtfertigt, genauso wie es in den 1980er Jahren gerechtfertigt war, den Katalysator zur Reinigung der Autoabgase einzuführen. Niemand hat deswegen die Existenz der EU in Frage gestellt, und Brüssel ist wenig später dem Beispiel der Schweiz gefolgt.
Idealerweise täte dies die EU auch in der Lohndumping-Frage, und zwar aus Eigeninteresse. Das Unbehagen in Europa wächst bedrohlich. Polnische Sanitäre sind bekanntlich auch in Frankreich nicht wirklich beliebt, und der Brexit kam nur deswegen zustande, weil sich die englischen Arbeiter krass benachteiligt fühlen. In den USA schliesslich hat die Verarmung des Mittelstandes Donald Trump ins Weisse Haus gehievt.
Die liberalen Sonntagspredigten gegen die Gewerkschaften erinnern stark an das Verhalten der Clinton-Elite. Sollen auch hierzulande die einfachen Arbeiter als «Beklagenswerte» links liegen gelassen werden? Nicht die Schweizer Linke, sondern ihre Kritiker sind die Hinterwäldler. Wer vor der wachsenden Ungleichheit die Augen verschliesst, schadet der Heimat.
Nach wie vor gilt, was der amerikanische Bundesrichter Louis Brandeis schon in den 1930er Jahren erkannt hat: «Wir können in diesem Land entweder eine Demokratie haben, oder wir können grossen Wohlstand haben, der in den Händen von Wenigen konzentriert ist. Aber wir können nicht beides haben.»