Am Wochenende veröffentlichte die Zeitung «Schaffhauser Nachrichten» eine Karikatur mit der Handynummer von Juso-Chefin Tamara Funiciello. Diese äussert sich daraufhin auf Facebook und sagt, noch nie sei sie derart heftig attackiert worden. Begonnen hatte alles mit dem Angriff auf fünf Frauen in Genf und einer Debatte über Gewalt an Frauen. Was ist passiert?
Am 8. August werden mitten in der Stadt Genf kurz vor fünf Uhr fünf 22 bis 33-jährige Frauen von fünf bis sechs Männern vor einem Club zusammengeschlagen. Derart heftig, dass zwei Frauen schwer verletzt ins Spital eingeliefert werden müssen. Das eine Opfer liegt danach eine Woche im Koma.
Den Tätern gelingt die Flucht. Mehrere Tage wird erfolglos nach den Männern gefahndet. Inzwischen ist klar, dass es sich bei ihnen mehrheitlich um französische Staatsbürger handelt, die in der Nähe zur Schweizer Grenze wohnhaft sind. Die französische Strafverfolgungsbehörde hat den Fall übernommen.
Der Angriff wirft hohe Wellen. Frauenorganisationen, Politikerinnen, Journalistinnen melden sich zu Wort. In den sozialen Medien setzen Frauen wie Männer unter dem Hashtag #Allefüreine ein solidarisches Zeichen. Die Sozialdemokraten stellen einen 5-Punkte-Plan gegen Gewalt an Frauen vor.
Am Tag nach dem Vorfall findet in der Genfer Innenstadt eine Kundgebung statt. Am darauffolgenden Sonntag demonstrieren in Lausanne, Bern, Basel und Zürich hunderte Personen. Bekannte Wortführerinnen wie die Genderforscherin Franziska Schutzbach, die Co-Präsidentin der SP-Frauen, Natascha Wey, oder die waadtländische SP-Ständerätin Géraldine Savary halten Reden und fordern ein sofortiges Handeln der Politik.
Auf dem Bundesplatz in Bern hält die Juso-Präsidentin Tamara Funiciello eine knapp sieben Minuten lange Rede über Gewalt an Frauen. Sie spricht über ihre Angst, nachts alleine nach Hause zu gehen. Darüber, dass weltweit das Risiko für junge Frauen, durch männliche Gewalt zu sterben, grösser ist als durch Krebs, Malaria, Krieg und Verkehrsunfälle. Sie spricht darüber, dass in unserer Gesellschaft Männer so erzogen werden, dass sie das Gefühl haben, ein Recht auf eine Frau zu haben. Darüber, dass der meistverkaufte Hit der Schweiz eine Stalkinggeschichte erzählt, in der das «Nein» einer Frau als Antwort gewertet wird, es nochmals zu versuchen und nochmals und nochmals.
Und damit ist das heisse Thema für die heissen Tage im ereignislosen Sommermonat gefunden. Tamara Funiciello findet das Lieblingslied der Schweiz sexistisch! Skandalös findet das die SVP, eine Frechheit deren Jungpartei. Das ganze Land spricht nun über Funiciellos Unverschämtheit, den beliebten Popsong von Lo & Leduc zu kritisieren.
Und als ob die Debatte damit nicht schon genug abgedriftet wäre: Inzwischen melden Zeitungen, Augenzeugen zufolge handle es sich bei den Angreifern in Genf um Maghrebiner. Obwohl bisher keine gesicherten Informationen zum Hintergrund der Täter bekannt sind, gehen die Leitartikel-Schreiber daraufhin beflissen ans Werk. Bedenklich sei das, aber irgendwie auch nicht verwunderlich, denn Männer, die Frauen schlagen, kämen ja meist aus patriarchalen Gesellschaften – und darum sei Männergewalt in unserer Kultur kein Problem.
Und somit ist die Diskussion um «Gewalt an Frauen» definitiv vom Tisch. Die Schuldigen sind gefunden, getrost kann man sich dem allseits beliebten Thema Ausländerkriminalität und Juso-Bashing hingeben und aufatmen.
Und damit kommt der Hass. Auf Linke, die verharmlosen, dass Gewalt das Problem von migrantischen Männern ist. Auf Feministinnen, die sagen, alle Männer müssen in die Pflicht genommen werden, weil das Problem strukturell sei. Köpfe glühen vor Wut, Online-Kommentarspalten bieten ein Ventil für den Hass.
Funiciello wird als junge Frau, die mit ihren Aussagen immer wieder provoziert, zur Zielscheibe. «Gekochter Blödsinn», «nichts kapiert», «peinlich» sind noch die harmloseren Beleidigungen, die sich die Juso-Chefin anhören muss. Ein grosser Teil der Beschimpfungen reichen jedoch weit unter die Gürtellinie und bis hin zu Vergewaltigungs- und Morddrohungen.
Die Kampagne gegen Funiciello erreicht dann am vergangenen Wochenende ihren Höhepunkt. In ihrer Ausgabe vom Samstag druckt die Zeitung «Schaffhauser Nachrichten» auf der zweiten Seite eine halbseitige Karikatur des Künstlers Pascal Coffez ab. Auf der Zeichnung zu sehen ist eine übergrosse, schreiende und spuckende Tamara Funiciello, die oben ohne, ihren Büstenhalter schwingend Lo & Leduc, dargestellt als zwei kleine Männlein, niederbrüllt und als Sexisten beschimpft. Daneben abgedruckt ist Funiciellos Handynummer und der Hinweis, dass diese im Internet zu finden ist. In der Karikatur fragt sich Funiciello: «Warum ruft ihr mich nicht an?»
Die Darstellung der Juso-Präsidentin und insbesondere das Abdrucken ihrer Telefonnummer ist geradezu eine Einladung, Hassreden über einen Anruf auf ihr Handy an sie persönlich zu richten. Auf Facebook schreibt sie: «Ich wurde wegen eines Nebensatzes beleidigt, bedroht, lächerlich gemacht, angegriffen, angefeindet, karikiert, meine Telefonnummer wurde auf Facebook und in Zeitungen gestellt. (...) Diese Gesellschaft ist bereit, jede absurde Diskussion zu führen – ausser die über Männergewalt an Frauen.»
SP-Politikerin Natascha Wey schreibt: «Die einzigen, die komplett den Kompass verloren haben, sind gewisse Medien in diesem Land. Beschämend und erschütternd.» Und Anna Rosenwasser, Geschäftsleiterin der Lesbenorganisation der Schweiz postet: «Ja, wir brauchen einen Diskurs, ja, eine Zeitung soll kritisch und satirisch sein, ja ja ja ja, aber nein. Nicht so. Nicht mit dem lahmsten und unoriginellsten Versuch, Frauen zum Schweigen zu bringen: Indem ihr sie als hässige, hässliche und aber dann doch mindestens barbusige Emanzen darstellt, wenn sie auf strukturelle Ungerechtigkeiten hinweisen.»
Robin Blanck, Chefredaktor der Schaffhauser Nachrichten verteidigt die Darstellung von Funiciello. «Karikatur darf grundsätzlich alles und muss zuweilen auf das Mittel der Zuspitzung zurückgreifen.» Dagegen würden nur extremistische Kreise einschreiten, wie man bei ‹Charlie Hebdo›, der ‹Jyllands Posten› mit den Mohammed-Karikaturen und bei den Auftritten von Jan Böhmermann gesehen habe. Das Ziel der Karikatur sei zu keinem Zeitpunkt eine Verunglimpfung von Tamara Funiciello gewesen, sondern habe auf ihre geäusserte Kritik am Lied «079» von Lo & Leduc abgezielt. «Es ist eine sehr gefährliche Entwicklung, wenn die Politik beginnt, die künstlerische Freiheit von Kulturschaffenden anzutasten. Genau dieses Thema hat unser Karikaturist Pascal Coffez ins Zentrum gestellt.»
Dass mit dem Publizieren der Handynummer von Funiciello ihre Persönlichkeitsrechte verletzt worden sind, will Blanck nicht gelten lassen. Die Nummer finde sich schliesslich frei zugänglich auf ihrer Webseite. «Doch für das Funktionieren der Karikatur war die Nummer aber tatsächlich nicht nötig und man hätte sie auch weglassen können», räumt er ein.