Spielen wir das Szenario durch, das mit hoher Wahrscheinlichkeit real wird. Livia Leu, neue Staatssekretärin, kehrt Ende März mit den definitiven Ergebnissen ihrer Gespräche zum Rahmenabkommen mit der EU zurück. Sie hat Präzisierungen erreicht. Wirklich überzeugend sind die Resultate aber nicht.
Die Regierung sagt trotzdem Ja. Innerlich sind zwar fünf Bundesräte gegen den institutionellen Vertrag. Die Regierung kommt aber zum Schluss, sie könne die EU-Kommission nach zehn Jahren Diskussionen nicht mit einem Nein brüskieren. Sie reicht die heisse Kartoffel an das Parlament weiter.
Dieses berät es ab Herbst in eineinhalb Jahren. Im Frühling 2023, ein halbes Jahr vor den Wahlen 2023, kommt das Rahmenabkommen in Form eines obligatorischen Referendums vor das Volk. Das Volksmehr reicht also nicht. Es braucht auch das Ständemehr. Ein Scheitern ist vorprogrammiert.
Es ist genau dieses Szenario, das die Parteipräsidenten von SP, Mitte und auch FDP fürchten wie der Teufel das Weihwasser. Die drei Parteien bilden die alte europapolitische Allianz. Sie haben die Bilateralen seit 2000 in sieben Abstimmungen getragen.
Diese Koalition zerbricht nun aber am Rahmenabkommen. Wie ein Schatten hängt es über den Wahlen 2023 und verdunkelt die Aussichten der drei Parteien. Sie kämpfen darum, keinen Bundesratssitz an die Grünen zu verlieren.
Eigentlich glaubt niemand mehr, dass der Rahmenvertrag eine Volksabstimmung erfolgreich überstehen könnte. Auch die Spitzen von SP und Mitte nicht. Sie versuchen deshalb, den Bundesräten in Gesprächen klar zu machen, dass sie die Verantwortung nicht an das Parlament delegieren dürfen.
Mitte-Präsident Gerhard Pfister bestätigt diese Recherchen. Er habe verschiedenen Mitgliedern des Bundesrats in den letzten Wochen persönlich folgendes gesagt: «Kommt das Rahmenabkommen aus Brüssel zurück, brauchen wir eine klare Position des Gesamt-Bundesrates. Aus staatspolitischen Gründen darf er das Abkommen nur dann in das Parlament geben, wenn er klar Ja dazu sagt.»
Der gewiefte Stratege weiss: Kommt im Frühling 2023 ein schlechtes Abkommen vors Volk, droht der ehemaligen CVP in den Stammlanden der Gau. Dort hat der Vertrag keine Chance. Die EWR-Geschichte von 1992 könnte sich wiederholen: Die Mitte verliert massiv Wähler an die SVP, die als Wahlsiegerin aus dem Scherbenhaufen hervorgeht. «Wir wollen keine Referendumsabstimmung durchführen müssen über eine Vorlage, hinter der nicht einmal die Landesregierung voll und ganz stehen kann», sagt Pfister.
Vor grossen Problemen steht aber auch die SP. Sie spürt den Atem der Gewerkschaften im Nacken. SP-Nationalrat Pierre-Yves Maillard, Präsident des Gewerkschaftsbundes (SGB), erteilte dem Rahmenabkommen bei CH Media eine Absage, noch bevor die Ergebnisse der Gespräche bekannt sind.
«Wir haben die Positionierung von Maillard zur Kenntnis genommen», sagt SP-Co-Präsident Cédric Wermuth. Da Maillard nicht als Wendehals bekannt ist, droht der SP eine Zerreissprobe. «Für ein schlechtes Abkommen wird die SP den Kopf nicht hinhalten», sagt Wermuth. Sie sei zwar nach wie vor bereit, das Abkommen mitzutragen. «Beim Lohnschutz zählt für uns aber jedes Komma.» Zudem sei das Abkommen «ein bürgerliches Gegenprojekt zur Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen»: «Das war nicht unsere Idee.»
Wermuth sieht den Ball bei Aussenminister Ignazio Cassis. «Er legt mit seinem Auftritt den Ton fest für die Diskussion», betont er. «Kann er nicht mit voller Überzeugung sagen, er habe das Beste herausgeholt, wird es in der Abstimmung schwierig.»
Für Wermuth würde der Bundesrat «fahrlässig» handeln, sollte er «ein Abkommen unterzeichnen, das niemanden so richtig zufriedenstellt». Es müsse so gut sein, «dass FDP und Mitte es genau gleich wie die Gewerkschaften und wir überzeugt mittragen können», sagt er –und erwartet vom Bundesrat eine deutliche Ansage: «Klar Ja oder klar Nein.»
Pfister und Wermuth, das zeigt sich, fahren einen weitgehend identischen Kurs – Pfister strikter als Wermuth. Aber es ist offensichtlich, dass sich die beiden abgesprochen haben.
Ein bisschen eigenständiger unterwegs ist FDP-Präsidentin Petra Gössi. Sie befindet sich aber in einer innerparteilich höchst delikaten Situation. Spätestens seit Ständerat Thierry Burkart in einem Gastbeitrag bei CH Media einen Übungsabbruch für das Rahmenabkommen forderte, zeigte sich: Die Fliehkräfte sind gross.
Offiziell sagt die FDP «Ja aus Vernunft» zum Abkommen, das ihr Bundesrat Cassis aushandelt. Alt Bundesrat Johann Schneider-Ammann schrieb aber in der NZZ einen Totalverriss. Und selbst bei Cassis ist nicht klar, ob er das Abkommen im Innersten will. Dazu kommt: Mit den neuen Verbänden Kompass Europa und Autonomiesuisse hat sich eine Gegenbewegung zu Economiesuisse entwickelt. Der Vertrag hat das Potenzial, die FDP zu spalten.
Natürlich hat auch FDP-Präsidentin Petra Gössi eine klare Forderung an die Regierung. «Ich erwarte, dass sich der Gesamt-Bundesrat hinter das Rahmenabkommen stellt», sagt sie. «Zumindest sechs Bundesräte müssen sich voller Überzeugung dafür aussprechen, Bundespräsident Guy Parmelin inklusive.»
Der SVP-Bundesrat führe das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco), und das Abkommen sei im Gesamtinteresse der Schweiz. Eine Ausnahme gesteht Gössi Ueli Maurer zu: «Er ist gegen das Abkommen, ich nehme an, dass man ihn nicht mehr ändern kann.»
Gleichzeitig fordert Gössi vom SP-Präsidium, «sich im Gesamtinteresse der Schweiz aus der Umklammerung der Gewerkschaften zu lösen». Ein Fingerzeig auch an die Bundesräte Alain Berset und Simonetta Sommaruga.
SP, Mitte und FDP nehmen die Regierung in die Pflicht. Parallel dazu wälzt vor allem die SP, aber auch die FDP Pläne, wie es weitergehen soll, wenn das Rahmenabkommen scheitert. «Dann braucht es Alternativen, weil die Bilateralen erodieren werden», sagt Gössi. «Wir müssten unseren Wirtschaftsstandort stabilisieren – zum Beispiel mit einem Interimsabkommen.» Ob die EU dazu Hand böte, sei aber fraglich.
Deutlich konkreter sind die Pläne der SP-Co-Präsidenten Cédric Wermuth und Mattea Meyer. Noch vor der Wahl ins Präsidium schrieben sie ein Papier für die SP Sektion EU. Das Papier ist öffentlich bisher nicht bekannt.
Wermuth/Meyer skizzieren darin das Projekt eines Interimsabkommens. «Scheitert das Rahmenabkommen, sollten wir der EU eine neue Partnerschaftsstrategie des guten Willens anbieten – für eine 5-jährige Verständigungsphase», sagt Wermuth heute.
«Die Schweiz könnte sich mit einem Beitrag von 75 bis 100 Prozent der Pro-Kopf-Zahlungen Norwegens an den EWR am europäischen Haushalt beteiligen – zum Beispiel beim grünen Deal und über Kohäsionszahlungen.» Im Gegenzug erhielte die Schweiz Zugang zu allen EU-Kooperationsprogrammen.
Das würde massiv teurer für die Schweiz. Sie bezahlt für die nächsten zehn Jahre 130 Millionen Franken pro Jahr als Kohäsionsbeitrag an die EU. EWR-Mitglied Norwegen berappt 2014 bis 2021 391 Millionen Euro pro Jahr.
Die Ideen des SP-Führungsduos zeigen: Die Linke bereitet sich vor auf ein Scheitern des Rahmenabkommens. (aargauerzeitung.ch)
Die SP kann sich gerne offensiv für den EU-Beitritt stark machen. Das ist a) ein völlig hoffnungsloses unterfangen und b) würden bei einem EU-Beitritt all die linken Steckenpferde gänzlich massakriert werden, Stichwort Lohnschutz, staatsgarantieren bei Kantonalbanken etc.
Und der Lösungsorschlag ist:
*Trommelwirbel*
Der Staat gibt mehr Geld aus für X, wobei die CH der EU diktieren können soll, wo das Geld hinfliesst. Genau.
Sehr innovativ.
Die Parteien müssen sich jetzt entscheiden und Farbe bekennen, ob sie die wirtschaftlichen Vorteile über die Selbstbestimmung wie wir sie bisher kennen, stellen. Nicht mehr und nicht weniger.
Aus dieser Aussage spürt man einen gewissen Wunsch, die Ungemütlichkeit der Situation auf politische Gegner abzuwälzen. Ich möchte betonen, wie feige und unehrlich das ist - die Ignoranz des Normalschweizers, der die EU-Seite der Dinge nicht gut kennt, wird ausgenützt