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Warum das George-Floyd-Urteil so wichtig ist

epa09148739 Community organizer Malisha Smith (R) hugs a friend as people celebrate at the George Floyd Square after former Minneapolis Police Officer Derek Chauvin was found guilty on all counts in t ...
Zwei Bürgerrechtsaktivistinnen umarmen sich nach dem Schuldspruch gegen Derek Chauvin.Bild: keystone
Analyse

Warum das George-Floyd-Urteil so wichtig ist

Der Schuldspruch gegen den Polizisten hat möglicherweise historische Folgen für die USA – und die Welt.
21.04.2021, 12:2521.04.2021, 15:25
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Als die 17-jährige Darnella Frazier am 25. Mai 2020 an einer Strassenecke in Minneapolis den Record-Knopf ihres Smartphones drückte, war sie sich den Folgen in keiner Weise bewusst. Sie wollte einzig festhalten, wie ein weisser Polizist einen schwarzen, gefesselten Mann zu Tode würgte. Ohnmächtig, etwas daran ändern zu können, wollte sie wenigstens den Vorfall dokumentieren und öffentlich machen.

Das beinahe 10-minütige Video ging bald viral. In Abwandlung einer bekannten Journalisten-Weisheit kann man in diesem Fall sagen: «Ein Video sagt mehr als tausend Worte.» Die kaltblütige Tat, die arrogante Fratze des Mörders – was hätte den nach wie vor grassierenden «systemischen Rassismus» in den USA besser illustrieren können?

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Zufällige Passanten filmen den Mord an George Floyd.Bild: keystone

Nun ist der Prozess gegen den Mörder zu Ende und das Urteil gefällt. Der Polizist Derek Chauvin wurde in allen Anklagepunkten – Mord zweiten Grades und Totschlag – für schuldig befunden und muss wahrscheinlich für eine sehr lange Zeit hinter Gitter.

Das bedeutet mehr als dass die Familie von George Floyd Gerechtigkeit für den scheusslichen Mord an ihrem Angehörigen erhalten hat. Der Schuldspruch wird möglicherweise weitreichende Folgen für die amerikanische Gesellschaft haben. Nicht zufällig hat die Nation mit angehaltenem Atem auf dieses Urteil gewartet.

Die erste Reaktion ist denn auch ein kollektives Aufatmen. Das liberale Lager jubiliert. Eugene Robinson, schwarzer Kolumnist bei der «Washington Post», schreibt: «Chauvins Verurteilung ist eine gewaltige Erleichterung – und, hoffentlich, ein Neuanfang.»

Rashad Robinson, Präsident der Bewegung Color of Change, erklärt in der «New York Times»: «Wir werden ewig auf diesen Moment in der amerikanischen Geschichte zurückblicken. George Floyds Tod hat neue Energie für den Wandel erzeugt.»

Derrick Johnson, Präsident der schwarzen Bürgerrechts-Organisation N.A.A.C.P, spricht gar von einem «Selma-Moment». Was meint er damit?

FILE - In this March 21, 1965 file photo, Martin Luther King, Jr. and his civil rights marchers cross the Edmund Pettus Bridge in Selma, Ala., heading for the capitol, Montgomery, during a five day, 5 ...
Martin Luther King führt den Protestzug über die Brücke in Selma.Bild: keystone

Selma ist eine Ortschaft im Bundesstaat Alabama. Am 15. September 1965 begann dort ein von Martin Luther King angeführter Protestzug in die Hauptstadt Montgomery. Beim Überqueren einer Brücke wurde dieser Protestmarsch von weissen Polizisten brutal niedergeknüppelt.

Selma wurde ein Symbol für die Bürgerrechtsbewegung in den 60-er Jahren. Diese gipfelte im Civil Rights Act, einem Gesetz, dass der De-facto-Apartheid in den USA ein Ende setzte und den Schwarzen ihre Bürgerrechte zurückgab.

Das Urteil gegen den Mörder von George Floyd fällt in eine Zeit, in der die Stimmung in den USA wieder einmal explosiv geworden ist. Das hat verschiedene Gründe:

  • Die weisse Bevölkerung beginnt zu realisieren, dass sie ihre Mehrheit bald verlieren wird. Der konservative Teil wehrt sich mit Zähnen und Klauen dagegen.
  • Vier Jahrzehnte Neoliberalismus haben den ehemals wohlhabenden Mittelstand ausgepowert und verunsichert. Die Ungleichheit hat groteske Ausmasse erreicht und schürt Neid und Hass.
  • Wichtige Institutionen wie das Gesundheitssystem sind dysfunktional geworden, die Infrastruktur hat 3.-Welt-Niveau erreicht.
  • Der rasche technologische Wandel verunsichert die Menschen zusätzlich; und all dies spielt sich auf dem Hintergrund des Klimawandels ab, dessen Folgen nicht mehr zu leugnen sind.

Es ist offensichtlich geworden: Die USA brauchen eine Rundum-Erneuerung. Die Republikaner stemmen sich jedoch gegen jede Art von Reformen und verteidigen mit aller Macht die Privilegien der Weissen. Obskure Gesetze wie der Filibuster im Senat und überholte Wahlgesetze wie das Gerrymandering und das Electoral College helfen ihnen dabei.

Doch die Mauer der Republikaner beginnt zu bröckeln.

  • Das Urteil gegen den Polizisten war nur möglich, weil erstmals auch Polizisten gegen einen der ihren aussagten.
  • Die Anliegen der Black-Lives-Matter-Bewegung stossen zunehmend auf Verständnis, zumindest in den Vorstädten.
  • Die NRA, die einst übermächtige Lobby-Organisation der Waffennarren, befindet sich in einer existenzbedrohenden Krise.
  • Die sture Verweigerung der Republikaner wird in den eigenen Reihen nicht mehr goutiert. Selbst Ex-Präsident George W. Bush kritisiert neuerdings die Politik der Grand Old Party.

Der Schuldspruch gegen den Polizisten Chauvin ist daher mehr als überfällige Gerechtigkeit. Wie einst die brutale Polizeiaktion in Selma könnte er das Signal zu einem Aufbruch für längst überfällige Reformen der amerikanischen Gesellschaft werden. Darauf weist auch Vize-Präsidentin Kamala Harris hin:

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Vize-Präsidentin Kamala Harris kommentiert das Urteil.Bild: keystone
«Die Wahrheit über die rassistisch bedingte Ungleichheit lautet: Es ist nicht bloss ein Problem der Schwarzen und der Farbigen. Es ist ein Problem für jede Amerikanerin und jeden Amerikaner. Es verhindert, dass wir das Versprechen auf Freiheit und Gerechtigkeit für alle einlösen können. Und es hält unsere Nation davon ab, unser ganzes Potenzial zu realisieren.»
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So feiert Minneapolis das Urteil zu George Floyds Tötung
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quelle: keystone / justin lane
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89 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Domino
21.04.2021 12:54registriert Januar 2016
Und was wen Chauvin gar kein Rassist ist? Er wurde wegen Mord und nicht Rassismus verurteilt.
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Truth Hurts
21.04.2021 12:44registriert Mai 2016
"Die Republikaner (...) verteidigen mit aller Macht die Privilegien der Weissen."

Da fehlt am Schluss noch ein Wort: "Oberschicht".

Die ganze Woke Bewegung tut so, als wäre ein Schwarzer, egal in welche Situation er hinein geboren wurde, gegenüber einem Weissen benachteiligt. Dies stimmt vielleicht für gewisse Aspekte wie z.B. dem Justiz-System, im Allgemeinen gibt es weit zuverlässigere Indikatoren für den Erfolg eines Menschen. Nicht zuletzt müssen Afroamerikaner da auch tief in sich gehen und nach Gründen suchen, weshalb z.B. afrikanische Einwanderer deutlich erfolgreicher sind.
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Paul Atreides
21.04.2021 13:18registriert Februar 2021
Wieso schreibt ihr immer Mord?

murder =\= Mord

Sehr wichtiger Unterschied, echt!

Diese ständige Undifferenziertheit macht den Juristen in mir ganz verrückt!
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