Der Nationalrat beginnt am Dienstagnachmittag mit den Beratungen zur Wiedergutmachungsinitiative. Diese verlangt, dass ehemalige Verdingkinder und andere Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen finanzielle Leistungen erhalten. Zur Debatte steht auch ein Gegenvorschlag.
Die Rechtskommission des Nationalrates hat sich gegen die Initiative und für den indirekten Gegenvorschlag ausgesprochen. Mit dem Gesetz könnte den betroffenen Menschen schneller geholfen werden als mit der Initiative, argumentiert sie. Das sei angesichts des Alters vieler Opfer wichtig.
Es handelt sich indes nicht um den einzigen Unterschied zwischen Initiative und Gegenvorschlag. Die Wiedergutmachungsinitiative verlangt Zahlungen im Umfang von 500 Millionen Franken. Die Höhe der Wiedergutmachung soll sich nach dem erlittenen Unrecht richten, entscheiden würde eine unabhängige Kommission.
Für alle denselben Betrag
Mit dem Gegenvorschlag stünden 300 Millionen Franken zur Verfügung. Alle Opfer würden den gleichen Betrag erhalten - wie viel genau, hängt von der Anzahl der bewilligten Gesuche ab. Den tieferen Gesamtbetrag begründet der Bundesrat damit, dass er von einer tieferen Opferzahl ausgeht als die Initianten.
Der Bund schätzt die Zahl der noch lebenden Anspruchsberechtigten auf 12'000 bis 15'000. Damit würde jedes Opfer 20'000 bis 25'000 Franken erhalten. Die Rechtskommission des Nationalrates schlägt vor, die Leistung auf 25'000 Franken zu begrenzen.
Kein haftpflichtrechtlicher Anspruch
Dass alle Opfer den gleichen Betrag erhalten sollen, begründet der Bundesrat juristisch: Es handle sich nicht um Genugtuungszahlungen im eigentlichen Sinne, schreibt er in seiner Botschaft ans Parlament. Den Zahlungen liege kein haftpflichtrechtlicher Entschädigungsanspruch zugrunde. Die finanzielle Leistung sei vielmehr eine freiwillige Geste als Zeichen der Wiedergutmachung und Solidarität.
Der Bundesrat hält unterschiedliche Beträge je nach erlittenem Unrecht aber noch aus einem anderen Grund für problematisch: Abstufungen könnten so aufgefasst werden, dass nach Opfern erster und zweiter Klasse unterscheiden werde, gibt er zu bedenken. Es erscheine mehr als fraglich, ob das dem tatsächlich erlittenen Leid der Opfer in jedem Einzelfall gerecht würde und ob die Kategorienbildung für die Opfer wirklich hilfreich wäre.
Unrecht bereits anerkannt
Die Initianten haben in Aussicht gestellt, das Volksbegehren eventuell zurückzuziehen, sollte der Gegenvorschlag ohne Änderungen angenommen werden. Einige Mitglieder der Rechtskommission lehnen sowohl die Initiative als auch den Gegenvorschlag ab. Sie zweifeln an der Wirksamkeit von finanziellen Leistungen und weisen darauf hin, dass der Bund das geschehene Unrecht bereits anerkannt habe.
Im Lauf der letzten Jahre gab es erste Schritte zur Rehabilitierung der Opfer. Auch wurde ein Soforthilfefonds eingerichtet für jene, die sich in einer Notlage befinden. Ferner leiteten die Behörden eine umfassende wissenschaftliche Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen ein.
Fürsorgerische Zwangsmassnahmen waren in der Schweiz bis 1981 angeordnet worden. Manche der Opfer wurden als Kinder an Bauernhöfe verdingt, andere zwangssterilisiert, für Medikamentenversuche missbraucht oder wegen «Arbeitsscheu», «lasterhaften Lebenswandels» oder «Liederlichkeit» weggesperrt. Viele erlebten physische und psychische Gewalt. (sda)