Vergangenheitsbewältigung: Reformierte Kirche will ihre Rolle in Verdingkindpraxis aufarbeiten

Vergangenheitsbewältigung: Reformierte Kirche will ihre Rolle in Verdingkindpraxis aufarbeiten

24.03.2016, 17:28

Mit Spenden allein ist es noch nicht getan: Die reformierte Kirche will ihre Rolle in der Verdingkinderpraxis historisch aufarbeiten. Mit einer Tagung in Bern hat der evangelische Kirchenbund den Auftakt dazu lanciert. Die Katholiken sind hier einen Schritt voraus.

Über die Rolle der reformierten Kirchen in der Heim- und Verdingkinderpraxis des 19. und 20. Jahrhunderts in der Schweiz sei noch sehr wenig bekannt, teilte der Schweizerische Evangelische Kirchenbund (SEK) am Gründonnerstag mit. Die Aufarbeitung des Vergangenen sei ein grosses Anliegen. «Denn viele Kinder und Jugendliche wurden während langer Jahre ausgenutzt und misshandelt, während die Behörden, die Kirche und die Gesellschaft wegschauten.»

Aus diesem Grund organisierte der SEK am vergangenen Montag in Bern eine Tagung mit Historikern und Experten aus der Politik. Im Zentrum stand die Frage nach der Beteiligung der reformierten Kirche in der damaligen Fremdplatzierungspraxis. Ziel der Tagung war es, zu Nachforschungen über die Rolle der reformierten Kirchen bei Fremdplatzierungen bis 1981 zu ermutigen.

«Erfreulicher Anfang»

«Dies ist ein erfreulicher Anfang», sagte Historiker Thomas Huonker, der an der Tagung einen Vortrag hielt. Die katholische Kirche habe diesbezüglich bereits einiges unternommen.

Auch Simon Hofstetter, Vertreter des SEK am Runden Tisch für Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Organisator der Tagung, ortete eine Asymmetrie. Die katholische Kirche habe zum Thema bereits eigene Forschungsarbeit geleistet, auf reformierter Seite bestehe diesbezüglich Nachholbedarf, sagte er gegenüber der Nachrichtenagentur sda.

Die reformierten Kirchen waren in erster Linie in die Fremdplatzierung von Kindern in Familien und Heimen verstrickt. Oftmals spielten Pfarrer eine Rolle bei der Betreuung oder Überwachung der fremdplatzierten Kinder. Dabei kam es teilweise zu Verfehlungen: Die Familien wurden falsch ausgesucht, die Aufsichtsfunktion nicht oder mangelhaft wahrgenommen.

«Zwar gab es einige unter ihnen, die auf Missstände im System hingewiesen haben. Es ist jedoch konsternierend, feststellen zu müssen, dass andere ihre Pflicht zur Verteidigung der schwächsten Mitglieder der Gesellschaft nicht erfüllt haben», schreibt der SEK.

Fehlende Aufsicht

Im Visier der Aufarbeitung sind zudem auch Heime und Anstalten, die von den landeskirchlichen Kirchgemeinden oder von reformierten Vereinen getragen wurden. In der Deutschschweiz sind laut Hofstetter bisher rund 200 solche reformiert geprägte Institutionen bekannt, die Kinder aufnahmen.

Bei solchen von Vereinen getragenen Institutionen sei die Frage nach der Verantwortlichkeit der Kirche nicht ganz einfach. Dies hat mit der Struktur der reformierten Kirche zu tun: Es fehlte ihr damals an einer übergeordneten Aufsichtsstruktur. «Hier müssen wir herausfinden, wie die Verantwortlichkeiten aussehen», sagte Hofstetter.

Archive öffnen

An der Tagung wurde auch ein Appell an die Kantonalkirchen und einzelne Institutionen gerichtet, bei der Aufarbeitung aktiv Hand zu bieten. Dazu gehört auch das bereitwillige Zurverfügungstellen von Archivmaterial. Der SEK setzt sich zudem dafür ein, dass die Rolle der reformierten Akteure im Rahmen des anstehenden Nationalen Forschungsprogrammes (NFP) spezifisch beleuchtet wird.

Im Lauf der letzten Jahre gab es erste Schritte zur Rehabilitierung der Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen. Auch wurde ein Soforthilfefonds eingerichtet für jene, die sich in einer Notlage befinden. Zu diesem Fonds steuerte die reformierte Landeskirche 2015 ihre Osterkollekte bei.

Der Bund schätzt die Zahl der noch lebenden Opfer auf 12'000 bis 15'000. Eine im Dezember 2014 eingereichte Wiedergutmachungsinitiative fordert einen Hilfs- und Entschädigungsbeitrag von 500 Millionen Franken für die Opfer.

Der Bundesrat hat dem Parlament als indirekten Gegenvorschlag dazu einen Gesetzesvorschlag vorgelegt, der einen Fonds von insgesamt 300 Millionen Franken für Solidaritätsbeiträge vorsieht. (sda)

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