Der Brexit fordert die Europäische Union heraus. Ein Wandel ist zwingend. Das zeigen erste Reaktionen. Doch es stellt sich auch die Frage der konkreten Ausgestaltung eines EU-Austritts. Denn in der Geschichte der EU gab es diesen Fall noch nie.
EU-Ratspräsident Donald Tusk hat den Austritt Grossbritanniens aus der EU als historischen Moment dargestellt, der «ernste politische Konsequenzen» mit sich bringen werde. Nun gelte es aber, nicht der Hysterie zu verfallen. «Wir haben uns auf dieses Szenario vorbereitet.»
Er wolle nicht verbergen, dass er sich einen anderen Ausgang des Referendums erhofft gehabt habe, sagte Tusk am Freitag vor den Medien in Brüssel. Er wies darauf hin, dass nun kein gesetzliches Vakuum entstehe: Für Grossbritannien gelte das EU-Recht weiterhin, bis alles geregelt worden sei - mit all Pflichten und Rechten. Nachverhandlungen mit London schloss er aus.
Schon vor der Abstimmung habe er mit den Staats- und Regierungschefs der anderen 27 EU-Mitgliedsländern Gespräche geführt. Es herrsche Einigkeit, dass diese Länder weiterhin zusammenhalten werden. Nun sei aber die Zeit gekommen, um grundsätzlich über die Zukunft der EU nachzudenken.
Sondergipfel gefordert
Dafür fordert der belgische Regierungschef Charles Michel im kommenden Monat einen Sondergipfel der europäischen Staats- und Regierungschefs. Das Abstimmungsergebnis sei eine «Ohrfeige für das Projekt Europa», sagte Michel in Brüssel. «Ich fordere ein Konklave, um unser Engagement im Juli zu bekräftigen. Wir müssen unsere Prioritäten definieren und eine neue Zukunft für Europa darlegen.»
Die EU-Staats- und Regierungschefs kommen schon am kommenden Dienstag und Mittwoch zu ihrem regulären Juni-Gipfel zusammen, der nun vollständig vom Brexit dominiert sein dürfte. Mehrere EU-Politiker forderten Grossbritannien auf, bis dahin offiziell den Austritt zu erklären, damit die Verhandlungen dazu rasch beginnen können.
Dann beginnt eine zweijährige Frist, in der beide Seiten die Entflechtung ihrer Beziehungen aushandeln. Experten halten diese Zeit angesichts der komplexen Verbindungen zwischen Grossbritannien und der EU für kurz. Ein Teil des Brexit-Lagers spekuliert auf eine längere Übergangszeit bis 2019.
Warnung, aber nicht Ende der Welt
Polen sieht im Ausgang des britischen Brexit-Referendums ein Warnsignal an die gesamte EU. Statt das Votum der Briten zu kritisieren, sollte die Volksabstimmung zum Handeln mobilisieren, hiess es in einer Stellungnahme des Warschauer Aussenministeriums.
Der tschechische Ministerpräsident Bohuslav Sobotka bedauerte das Nein der Briten zur EU. «Trotz der Gefühle der Enttäuschung vieler von uns über das Referendumsergebnis muss man sehen, dass es nicht das Ende der Welt bedeutet und schon gar nicht das Ende der Europäischen Union.» Auch er forderte Veränderungen bei der EU.
Furcht vor Dominoeffekt
Gleicher Meinung ist Österreichs Aussenminister Sebastian Kurz: Er sieht nach dem Brexit grossen Veränderungsbedarf bei der EU. Wenn eines der grössten EU-Mitgliedsländer aus der EU austrete, könne «kein Stein auf dem anderen bleiben», sagte Kurz im Ö1-Morgenjournal des ORF.
Es sei nötig, dass sich die EU schnell neu aufstelle, wenn sich ein solches Referendum nicht in einem anderen EU-Land wiederholen solle. Tempo und Ausmass dieser Veränderung müssten «enorm» sein. Die EU muss laut Kurz zentrale Probleme wie etwa das Thema Migration lösen. «Ein Dominoeffekt auf andere Länder ist nicht auszuschliessen.»
Marine Le Pen, Chefin des französischen rechtsextremen Front National, verlangte bereits weitere Abstimmungen in den EU-Mitgliedsstaaten. «Wir brauchen jetzt dasselbe Referendum in Frankreich und in den Ländern der EU», sagte sie.
Der Chef der rechtspopulistischen niederländischen Partei für die Freiheit, Geert Wilders, hatte nach dem Ja zum Brexit getwittert, dass «die Niederlande die Nächsten sein werden». Seine Partei fordere «ein Referendum über den Nexit.»
Nicht zuletzt als Reaktion darauf suchte der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte nach beruhigenden Worten: Die europäische Zusammenarbeit sorge für Arbeitsplätze und «kollektive Sicherheit in einer instabilen Welt», sagte der rechtsliberale Premier.
Von einem Dominoeffekt geht EU-Parlamentspräsident Martin Schulz nicht aus. «Die Kettenreaktion wird es nicht geben», sagte er im «Morgenmagazin» des ZDF. Zur Begründung verwies er unter anderem auf die negativen Reaktionen von Wirtschaft und Börse auf den Entscheid der Briten. (sda)