Was wäre wenn? In der kontrafaktischen Geschichtsschreibung («entgegen den Fakten») wird spekuliert, was geschehen wäre, wenn bestimmte historische Tatsachen nicht oder anders eingetroffen wären. Wenn jemand anders gehandelt hätte. Diese Art der Geschichtsschreibung ist durchaus populär. Sogar der hoch angesehene Historiker Niall Ferguson hat sich damit eingehend beschäftigt und ein Buch über die historischen Alternativen im 20. Jahrhundert geschrieben.
Besonders reizvoll ist dieses «Was wäre wenn?» im Sport. Beispielsweise im Fall von Töffstar Dominique Aegerter.
Vor einem Jahr ist es zum Krach mit Teammanager Fred Corminboeuf gekommen. Dominique Aegerter unterschrieb vorzeitig für die Saison 2017 beim Team der Gebrüder Kiefer. Obwohl er Fred Corminboeuf eigentlich bereits für die Saison 2017 zugesagt hatte. Er kam einfach mit der Situation als Nummer 2 hinter Tom Lüthi (der 2015 ins Team geholt worden war) nicht mehr zurecht.
Die Situation eskalierte. Der Rohrbacher wurde nach einer Vertragsunterschrift beim Kiefer-Team sofort gefeuert und durfte die letzten vier Rennen der Saison 2016 nicht mehr bestreiten – obwohl er eigentlich das Recht dazu gehabt hätte.
Er verliess nicht nur das Team, mit dem er seine gesamte Moto2-Karriere (seit 2010) bestritten und 2014 den GP von Deutschland gewonnen hatte. Auch die Beziehung mit Olivier Métraux, seinem langjährigen Förderer und wichtigsten Sponsoren, zerbrach. Dabei ignorierte Dominique Aegerter ein ungeschriebenes Gesetz, das sagt, man solle nie Brücken hinter sich verbrennen («never burn bridges»). Das kann sich, wenn es dumm läuft, als verhängnisvollster Fehler in unserer neueren Töffgeschichte herausstellen.
Was wäre jetzt, wenn Dominique Aegerter still in seinen Helm geflucht, sich mit Teammanager Fred Corminboeuf arrangiert und diese Saison als Nummer 2 hinter Tom Lüthi geblieben wäre? Ja, dann wäre er jetzt ein König. Dann wäre er nach dem Aufstieg von Tom Lüthi in die Königsklasse nächste Saison wieder die unumstrittene Nummer eins im Team wie bis 2014. Er wäre 2018 der einzige helvetische Töffstar mit dem Potenzial für Podestplätze und Siege. Und Olivier Métraux wäre nach wie vor sein Förderer und Financier. Wir könnten uns auf ein grosses Töffjahr 2018 freuen – mit einem Star in der zweitwichtigsten (Moto2) und einem tapferen Vertreter in der wichtigsten Töff-WM (MotoGP).
Aber auch für Teamchef Fred Corminboeuf gilt dieses «Was wäre wenn?». Hätte er sich intensiver um Dominique Aegerter gekümmert und nicht alles auf die Karte Tom Lüthi gesetzt, dann hätte er jetzt keine Mühe, sein Team für nächste Saison zu finanzieren. Er hätte auch nach dem Abgang von Tom Lüthi weiterhin einen charismatischen Star mit viel Medienpräsenz. Um Dominique Aegerter herum und mit dessen Sponsoren hätte er keine Mühe, sein Team zu finanzieren. Auch er hat den Grundsatz missachtet, nie Brücken hinter sich abzubrechen.
Oder kann es zu einer Versöhnung kommen? Können die Brücken repariert werden? Dominique Aegerters Team hat grösste Mühe, die Finanzierung für die nächste Saison zu sichern und Fred Corminboeuf weiss nicht, ob er Piloten und Sponsoren findet, um auch 2018 ein Rennteam unterhalten und finanzieren zu können. Kenner schliessen eine Versöhnung von Dominique Aegerter und Fred Corminboeuf oder gar einen Wiedereinstieg von Olivier Métraux als Förderer und Financier für Aegerter aus. Zwar sagt Manager Robert Siegrist: «Man soll niemals nie sagen.»
Aber der langjähriger Freund und Berater von Dominique Aegerter ist von der Situation überrascht worden und nun ziemlich ratlos. Es sei schwierig, das aktuelle Team, in dem sich sein Schützling wohlfühle, für nächste Saison zu finanzieren. Andere Angebote habe er nicht. «Es gibt Gespräche mit zwei anderen Teams. Aber keine konkreten Offerten. Es ist eben nicht einfach, einen Fahrer zu vertreten, der zurzeit lediglich auf Platz 9 im WM-Gesamtklassement steht.»
Es ist nicht mehr ausgeschlossen, dass Dominique Aegerter, will er 2018 in der Moto2-WM konkurrenzfähig sein, einen Teil der Gelder, die er mit seiner persönlichen Vermarktung erzielt (und die sein Einkommen sind), ins Team investieren muss. Robert Siegrist, der auch bei der Suche nach Geldgebern für das Kiefer-Team hilft, sagt sogar: «Ich bin bereit, auf jede Form von Provisionen zu verzichten und so auch meinen Beitrag zur Finanzierung zu leisten.»
Es gäbe eine Möglichkeit für Dominique Aegerter, 2018 so viel Geld zu verdienen wie nie zuvor in seiner Karriere. Ein Umstieg in die Superbike-WM. Ein Fahrer, der sein Potenzial für grosse Viertakter schon mehrmals beim Acht-Stunden-Rennen von Suzuka eindrücklich unter Beweis gestellt hat, kann in dieser Rennklasse als Werksfahrer (beispielsweise für Honda) mehr als eine halbe Million verdienen. Diese Saison fährt unser Randy Krummenacher, im GP-Zirkus gescheitert, die Superbike-WM.
Aber die Superbike-WM gilt als das Auffangbecken für abgehalfterte GP-Stars. Die Rennen haben bei Weitem nicht die gleiche mediale Abdeckung wie der GP-Zirkus. Im Vergleich zu einer Moto2-WM findet eine Superbike-WM praktisch unter Ausschluss der helvetischen Öffentlichkeit statt.
Dominique Aegerter und sein Manager Robert Siegrist wollen von der Superbike-WM nichts wissen. Sie setzen alles daran, auch 2018 im GP-Zirkus bleiben zu können. Und auch Robert Siegrist hat sein «Was wäre wenn?»-Erlebnis. Rückblickend sagt er: «Wir hatten 2014 nach dem Sieg auf dem Sachsenring ein Angebot aus der MotoGP-Klasse. Das hätten wir unbedingt annehmen müssen. Wir wussten zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass Tom Lüthi in unser Team kommt. Wir haben dieses Angebot auch abgelehnt, um Olivier Métraux und dem Team von Fred Corminboeuf die Treue zu halten …»
Tja, hinterher ist man immer schlauer. Nach dem Krieg ist jeder Soldat ein General und nach der Saison sind alle Manager, Fahrer, Techniker und Chronisten weise Männer.