Schon einmal, 2009, hatte Tom Lüthi den Aufstieg in die Königsklasse «MotoGP» offiziell beschlossen und verkündet. Mit eigenem Team. Aber am Ende wagte er den Schritt doch nicht und stieg 2010 in die Moto2-WM ein. «Es hätte keinen Sinn gemacht. Wir waren damals nicht gut genug» sagt sein Manager Daniel Epp. Er setzte für den Emmentaler den Japaner Hiroshi Aoyama ein.
Dieser Verzicht war durchaus typisch. Bereits 2005 wagte Tom Lüthi als Weltmeister der 125er-Klasse den Aufstieg zu den 250ern nicht und verbrachte noch ein Jahr in der kleinsten Töff-WM, die heute Moto3 heisst. So mutig er auf der Rennpiste auch ist – neben dem Asphalt ist Tom Lüthi ein Zauderer, der das Risiko scheut. Ein stiller Held zwischen dem Abenteuer «Königsklasse» und Geschäftssinn. Bisher hat am Ende stets die Vernunft gesiegt und er ist so bis heute gut gefahren.
Aber er hat im Fahrerlager für seine Vernunft einen Preis bezahlt. Seit Tom Lüthi 2010 im letzten Moment auf den Aufstieg in die Königsklasse verzichtet hat, ist er bei den grossen Teams, Yamaha, Honda, Suzuki und Ducati kein Thema mehr und gilt dort bei den Teamchefs als Feigling. Werksfahrer mit erstklassigem Material und einem sechs- oder siebenstelligen Salär kann er deshalb nicht mehr werden.
Die Karriere-Planung wird seither auch von wirtschaftlichen Faktoren bestimmt. Er verdient sein Geld in erster Linie aus seiner persönlichen Vermarktung mit den vom Team zur Verfügung gestellten Werbeflächen auf Helm, Kombi und einigen Stellen auf der Verschalung. Die aber ist von Medienpräsenz abhängig und Medienpräsenz hat er nur als Sieg- und Spitzenfahrer. Auch dank der hohen TV-Beachtung verdient er als Moto2-Star zwischen einer halben und einer ganzen Million im Jahr.
Nicht in der breiten Sportöffentlichkeit, aber umso mehr in der «Parallelwelt» Fahrerlager zählt nur die MotoGP-Klasse. Nur wer dort fährt, ist ein ganzer Mann. Deshalb streben alle, wenn irgendwie möglich, in diese Klasse. Wer nicht gut genug ist für die grossen Saläre bei den Werkteams, der kauft sich halt bei einem «Hinterbänklerteam» mit Sponsorengeldern ein.
Dieser Weg konnte für Tom Lüthi aus wirtschaftlichen Gründen keine Option sein. Und so musste er im Laufe der Jahre zusehen, wie alle möglichen Piloten an ihm vorbei in die MotoGP-Klasse aufstiegen. Piloten, die weniger Talent und weniger Erfahrung haben als er. Das krasseste Beispiel: der Moto3-Weltmeister Jack Miller stieg direkt in die Königsklasse auf. Der «Jugendwahn» der Teamchefs war ein weiterer Nachteil für Tom Lüthi, der im September 31 wird.
Die Lösung zeichnete sich schliesslich im Laufe der letzten Wochen ab und war spruchreif ausgehandelt: ein Wechsel zu KTM. Dort 2018 noch einmal ein Anlauf zum Moto2-WM-Titel und 2019 mindestens eine Saison mit KTM in der obersten Kategorie. Als KTM-Testpilot hatte sich Tom Lüthi ja letzte Saison bereits als Pilot für die schweren Bikes bewährt (watson.ch berichtete).
Und nun ist eine andere Türe aufgegangen. Ausgerechnet beim Team seines aktuellen Erzrivalen Franco Morbidelli. Tom Lüthi und der Italiener kämpfen um den Moto2-WM-Titel. Der belgische Biermilliardär Mar van Straaten braucht für nächste Saison in seinem Team (Marc VDS) einen zweiten Piloten für die MotoGP-Klasse. Auch er hat zwei Optionen: will er einen Piloten, der Geld ins Team bringt (darauf ist er von allen «Hinterbänkler-Teams» am wenigsten angewiesen) – oder will er die sportlich beste Lösung?
Inzwischen ist Lüthi von allen zur Verfügung stehenden Piloten auf dem Markt der mit Abstand beste. Er befindet sich seit gut einem Jahr in der Form seines Lebens und ist besser als alle anderen Kandidaten wie der bereits zu den Superbikes abgeschobene Stefan Bradl, Sam Lowes oder verschiedene Spanier und Italiener. Und besser als alle Piloten, die Marc van der Straaten bisher in der MotoGP-Klasse eingesetzt hat. Nächste Saison sollen nun Tom Lüthi und Franco Morbidelli, aktuell die zwei dominierenden Moto2-Piloten, für den Belgier die MotoGP-Klasse fahren.
Die Chancen auf einen Spitzenplatz sind für Lüthi ganz oben allerdings gering. Nur unter extremen Verhältnissen (Regenrennen) gibt es eine Chance auf Spitzenplätze. Jack Miller hat 2016 das Regenrennen in Assen gewonnen. Ist die Piste trocken und bleibt Chaos aus, sind Klassierungen zwischen Platz 8 und 15 üblich. Tom Lüthi bekommt zwar eine Honda. Aber keine «Erstklass-Honda».
Das Team von Marc van der Straaten ist ein sogenanntes «Sateliten-Team» und bekommt gegen viel Geld Maschinen geliefert, die nicht ganz auf dem allerletzten Entwicklungsstand der Werksmaschinen sind. Die echten Werksmaschinen, die das gesamte Wissen eines grossen Motorradwerkes enthalten, werden nicht «ausser Haus» geliefert.
Reichen Klassierungen zwischen 9 und 15 für die TV- und Medienpräsenz, die Tom Lüthi für sein Einkommen braucht? Die Rennen wird SRF live übertragen, hie und da erfasst die TV-Kamera auch die Hinterbänkler. Dafür sorgen schon die cleveren Profis des GP-Promotors Dorna. Die ersten Tests und die ersten Rennen werden die Medien aufmerksam verfolgen und mit ein bisschen Geschick wird es gelingen, auch ohne Podestplätze im Gespräch zu bleiben.
Um den heiklen Deal nicht noch zu gefährden, schweigen jetzt alle. Teammanager Michael Bartholemy darf die Neuigkeit verkünden. In den letzten Tagen wurde noch um allerlei Vertragsdetails gerungen. Daniel Epp besteht auf einem Zweijahresvertrag für Tom Lüthi.
Das Risiko ist zu gross, dass sich sein Schützling nach einem Jahr auf der Strasse wiederfindet. Unter welchen Bedingungen finanziert Hauptsponsor Olivier Métraux den Platz im Team von Marc van Straaten? Kann Tom Lüthi seinen Cheftechniker Gil Bigot mitnehmen, dem er die Erfolge der letzten zwei Jahre verdankt?
Ist der Schritt nach oben vollzogen, sind die Auswirkungen auf den Schweizer Töffrennsport dramatisch: das Team von Fred Corminboeuf verliert mit Tom Lüthi den Hauptsponsor und gerät in Existenznot. Was dann aus Nachwuchsfahrer Jesko Raffin wird, ist offen. Mit Dominique Aegerter, mit dem er 2014 noch den GP von Deutschland gewann, hat sich Fred Corminboeuf so gründlich verkracht, dass eine Versöhnung nicht mehr denkbar ist.
Zwei MotoGP-Saisons im Team von Marc van Straaten sind nicht nur ein Schlussfeuerwerk für die Karriere von Tom Lüthi. Es ist auch das Schlussfeuerwerk für eine der grossartigsten Epochen des Schweizer Motorradrennsportes, geprägt von Dominique Aegerter und Tom Lüthi. Die Jahre der Siege und Podestplätze (die wir inzwischen schon fast als Selbstverständlichkeit gefeiert haben) sind vorbei. Wir werden Jahre, vielleicht Jahrzehnte auf den nächsten helvetischen GP-Sieger waren müssen.