In Schlieren, vor den Toren Zürichs, ist am Mittwochabend ein Wolf von einem Zug überfahren worden. Er war auf der Stelle tot. Noch ist unklar, woher der Wolf kam. Klar ist aber: Es ist das erste Mal, dass im Kanton Zürich nachweislich ein Wolf aufgetaucht ist. Und es werde nicht das letzte Mal sein, sagt Urs J. Philipp, Leiter der Fischerei- und Jagdverwaltung des Kantons Zürich.
«Ich habe mit dem Wolf gerechnet», sagt Philipp. «Allerdings erst im Herbst.» Und eher im Zürcher Oberland oder im Süden des Kantons. Dass nun ein Tier bis an die Stadtgrenze vorgerückt sei, sei schon erstaunlich. «Aber andererseits: Wölfe legen grosse Distanzen zurück – bis zu 60 Kilometer in einer Nacht», so Philipp.
Philipp ist alles andere als beunruhigt über das Auftauchen eines Wolfs. Im Gegenteil: «Allen, die mal einen Wolf sehen, rate ich, den Anblick zu geniessen. Ich habe noch nie einen wild lebenden Wolf gesehen», so Philipp. Grund zur Sorge für die Bevölkerung gäbe es keinen. «Es besteht kein Risiko, solange man sich richtig verhält», betont Philipp. Das heisse Abstand halten, auf keinen Fall versuchen zu füttern und den Behörden melden.
Es sei durchaus möglich für einen Wolf, in Stadtnähe zu leben, sagt Philipp weiter. Es habe viel Futter, einen guten Rehbestand, einen ruhigen Wald und einen grossen Dickichtbestand. «Vielleicht holt er einmal einen Hund oder eine Katze. Aber er geht nicht in die Stadt und leert einen Müll, wie Füchse oder Bären das tun.» Dem Menschen weiche der Wolf aus, weil er nicht zu seinem Beutespektrum gehöre. Und ausserdem: Wann das nächste Mal ein Wolf hier auftauche, sei sowieso schwierig zu sagen. «Bis sich eine Wolfspopulation an einem Ort bildet, dauert das noch Jahre», sagt Philipp.
Auch beim Rudel vom Calanda-Massiv dauerte es fast ein dutzend Jahre, bis sich die Wölfe niederliessen und Nachwuchs zeugten. Ob der junge Wolf, der in Schlieren überfahren wurde, Nachkomme des Calanda-Rudels ist, ist noch unklar. Zunächst muss das Tier genetisch untersucht werden. So weit wäre es fast nicht gekommen: Wie Philipp erzählt, sei das Tier zunächst für einen Hund gehalten und deshalb beinahe «im normalen Entsorgungsablauf» verbrannt worden. Die Behörden hätten es aber rechtzeitig sicherstellen können.
Gegenüber der Südostschweiz mutmasst der Bündner Jagdinspektor Georg Brosi, es handle sich mit grosser Wahrscheinlichkeit um einen Wolf aus dem Calanda-Rudel. Dies, weil inzwischen die meisten Wölfe in der Schweiz aus diesem Rudel stammen, das im Bergmassiv zwischen den Kantonen Graubünden und St. Gallen lebt.
In den Alpen leben 200 bis 300 Wölfe. Es bestehen 30 fortpflanzungsfähige Rudel in Italien und Frankreich. Das nördlichste italienische Rudel lebt im Aostatal, 20 Kilometer von der Schweizer Grenze entfernt.
Der Ständerat will den Schutz des Wolfes lockern. Damit soll den Interessen der Bergbevölkerung – Alpwirtschaft, Jagd oder Tourismus – besser Rechnung getragen werden können. Die kleine Kammer hat am Donnerstag einer Motion von Stefan Engler (CVP/GR) mit diesem Anliegen zugestimmt.
Von vielen Menschen werde die Rückkehr des Wolfes in die Alpen und Voralpen mit Interesse und mit Sympathie verfolgt, sagte Engler. Im Gegensatz dazu stehe die Situation jener, die durch die Entwicklung geschädigt würden oder gar in ihrer Existenz bedroht seien. Heute darf ein Wolf mit einer Ausnahmebewilligung abgeschossen werden, wenn er Schafe reisst, grosse Schäden beim Wild anrichtet oder Menschen erheblich gefährdet.
«Ohne tote Schafe kann man Wölfe nicht schiessen», formulierte es Umweltministerin Doris Leuthard etwas salopp. Nach Ansicht des Ständerats ist dieses Konzept wegen der wachsenden Wolfspopulation überholt.
(lhr/dwi/kri/sda)