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Liebe Frau Freitag, ich habe letztes Jahr eine Lehre mit BMS angefangen und fühle mich seither in meinem Alltag gefangen. 

Die Jugendzeit wird überbewertet: Wie anstrengend es wohl sein muss, so furchtbar gelangweilt zu wirken?
Die Jugendzeit wird überbewertet: Wie anstrengend es wohl sein muss, so furchtbar gelangweilt zu wirken?Bild: Kafi Freitag
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Liebe Frau Freitag, ich habe letztes Jahr eine Lehre mit BMS angefangen und fühle mich seither in meinem Alltag gefangen. 

Zudem muss ich auch für die Schule sehr viel machen und komme kaum aus dem Haus (wenn ich mal nicht arbeite). Meine Familie hilft mir diesbezüglich auch nicht viel, denn sie arbeiten sehr oft. Nach der Arbeit bin ich müde und möchte nur ins Bett. Ich habe das Gefühl ich verpasse meine Jugend. Eine andere Sache ist, dass ich während der Arbeit nur noch mit 30+ Leuten zu tun habe und meine Freunde in meinem Alter vermisse. Die Themen bei der Arbeit gehen um AHV und welcher Staubsauger der Beste ist, ich vermisse den Klatsch und Tratsch aus meiner Schule. Angst habe ich auch, dass ich bis 64 in diesem Leben gefangen bleibe. Livia, 16
04.05.2014, 20:1423.06.2014, 17:35
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Kafi Freitag
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Liebe Livia 

Ihre Frage hat bei mir viel ausgelöst. Auf der einen Seite habe ich über meine eigenen Jugendjahre +16 nachgedacht, auf der anderen, was meinem heute knapp zehnjährigen Sohn noch alles blühen wird. Und dann habe ich auch noch gedankliche Brücken zum heutigen Jugendwahn geschlagen. Aber jetzt mal schön der Reihe nach.

Als ich auf dem Weg zu sweet sixteen unterwegs war, bin ich durch die Aufnahmeprüfungen zweier Kunstgewerbeschulen gerasselt. Ich wollte unbedingt den Vorkurs machen, wurde an der einen Schule aber nicht genommen, weil meine Prüfungsarbeit viel zu detailliert gestaltet war und an der anderen nicht, weil meine Prüfungsarbeit viel zu wenig detailliert gestaltet war. Ich landete drum – gezwungenermassen – in einer verhassten KV-Lehre, die ich in einem noch verhassteren Betrieb (Von Roll AG) absolvieren musste. Allerdings nur so lange, bis ich im letzten Lehrjahr, nach einem desillusionierenden Gespräch mit dem Leiter Umweltschutz und Technik, Greenpeace auf den Plan rief. Danach hat man mir sehr nahe gelegt, die restliche Lehrzeit doch woanders zu verbringen. Etwa zur selben Zeit habe ich den Wohnort vom Elternhaus, wo ich bei meiner Mutter lebte, deren Terror keine Grenzen zu haben schien, zum Wohnort meines Vaters gewechselt. Sie können sich vielleicht vorstellen, dass ich mir all Ihre Fragen auch immer wieder gestellt habe. Und dass ich mein Leben aufs Blut gehasst habe, muss ich auch nicht weiter ausführen.

Auch ich hatte das schreckliche Gefühl, dass es nie mehr würde besser werden. Um möglichst schnell in die Unabhängigkeit zu gelangen, habe ich mich so rasch als möglich in die Berufswelt begeben, anstatt wenigstens über ein Studium nachzudenken. Allerdings wäre ich dabei finanziell auch nicht unterstützt worden. So kam es, dass ich bereits mit 19 Jahren allein und in einer vollkommen verschimmelten Wohnung hauste.

Ein Jahr später habe ich einen Job als Anzeigenverkäuferin im Aussendienst angenommen. Der Fixlohn war pervers tief, man konnte von diesem Job nur leben, wenn man genügend Provision reinholte. Ich habe geschuftet, anstatt mich mit Freunden zu treffen, aber dafür in meinem ganzen Leben nie wieder so viel verdient wie damals. Das hat mir Auftrieb gegeben und danach habe ich meinem Leben eine neue Richtung gegeben. Ich habe die Stadt verlassen und mich beruflich stark weiterentwickelt.

Meine eigene Jugend ist dabei aber vollkommen auf der Strecke geblieben. Wenn man in so jungem Alter auf eigenen Beinen stehen muss, dann bleibt wenig Platz für jugendlichen Übermut. Mag sein, dass darum nie ein Partyanimal aus mir geworden ist. Dem stundenlangen Rumhängen in zu lauten und zu wenig belüfteten Räumen konnte ich nie viel abgewinnen. Ich musste sehr früh erwachsen werden. Wenn ich Mist gebaut habe, der finanzielle Folgen hatte, dann war da niemand aus der Familie, der mir unter die Arme gegriffen hat.

Inzwischen bin ich 39 Jahre alt, und wenn ich mich so umschaue, dann sind die Menschen in meinem Alter alle schon sehr gesetzt. Viele haben ihre gepflegte Eigentumswohnung in einem Grenzgebiet zur Agglo (innerhalb der Stadt findet man ja nichts mehr Zahlbares) und machen drei Mal im Jahr Urlaub in der Ferienwohnung der Eltern. Beruflich hat man etwas erreicht, allzu viel riskieren möchte man nicht mehr. Die im Trott festgefahrene Ehe macht zwar schon seit längerem nicht mehr glücklich, aber sie aufzulösen wäre noch unbequemer und darum belässt man es beim ausserehelichen Sex, den man alle paar Wochen mit einem guten Arbeitskollegen hat. Ich kann mir vorstellen, dass das für eine 16-Jährige wie Sie furchtbar trostlos klingen mag. Das tut es für mich auch. Weil es furchtbar trostlos IST!

Interessanterweise beobachte ich dieses Verhalten aber genau bei den Menschen, die eine sogenannt wilde Jugendzeit hatten. (Das sind heute alles elende kleinkarierte langweilige und mutlose Bünzlis, echt jetzt!) Die kreativen und risikofreudigen Menschen in meinem Umfeld haben dagegen eher eine triste oder langweilige Reifezeit vorzuweisen. Mag sein, dass dies eine Form von nachgeholter Spätpubertät ist, aber ich bevorzuge ein aufregendes und möglichst wenig festgelegtes Erwachsenenleben einer überbordenden Jugend. Schon ganz alleine deshalb, weil man länger erwachsen ist, als man ein Jugendlicher ist.

Vermutlich ist dies mitunter ein Grund, warum heute alle ums Verrecken jung bleiben oder wenigstens so wirken wollen. Im Gegensatz zu früher werden die Menschen heute später erwachsen, wollen so lange wie nur möglich keine Verantwortung übernehmen müssen. Kann sein, dass dies als Gegenreaktion auf eine verpasste, weil hinter Schulbüchern verbrachte, Jugend zu interpretieren ist. Aber die Realität holt uns alle ein. Früher oder später.

Was ich Ihnen mit dieser endlos langen und höchst ichbezogenen Antwort sagen möchte, ist, dass es eigentlich egal ist, wann man seine spannende Lebensphase hat. Hauptsache, sie kommt irgendwann. Sie können sich also getrost darauf verlassen, dass Sie nichts verpassen. Ich kann jetzt nicht abschätzen, ob Ihnen das irgendwie Trost bietet, oder so. Aber grundsätzlich wirkt das Leben der anderen immer etwas bunter und prickelnder an, als das eigene. Das war in meiner Jugend schon so und ist mit der Verbreitung von Facebook eher noch schlimmer geworden. Ich kann mir sogar sehr gut vorstellen, dass es sehr vielen Menschen in Ihrem Alter genau wie Ihnen ergeht.

Machen Sie sich keinen Stress, liebe Livia. Sie haben noch viel Zeit und Leben vor sich. Es rennt Ihnen nix davon, wenn Sie sich jetzt für eine Phase auf die Ausbildung konzentrieren müssen. Natürlich war das Leben in der Schule ein anderes, als es jetzt in der BMS ist. Das hat mit dem Erwachsenwerden zu tun. Aber sämtlicher Klatsch und Tratsch und Sex and Drögs and Röcknröll rennen Ihnen nicht davon.

Sie bleiben sehr wohl die nächsten 64 Jahre in diesem Leben gefangen. (Vielleicht sogar ein paar Jährchen länger.) Aber es liegt ganz allein an Ihnen, was Sie mit dieser Zeit anstellen! Sie können jetzt um eine angeblich verpasste Lebensphase trauern, oder darauf vertrauen, dass IHRE Zeit mit Sicherheit noch kommen wird.

Ach und übrigens. Ich weiss ja nicht, was Ihnen die Nulpen im Büro weismachen wollen, aber in Sachen Staubsauger kenne ich mich verdammt gut aus: Wann immer man Ihnen mit einem lächerlichen Dyson kommen will, kontern Sie beherzt mit dem Kärcher SV1902.

Mit herzlichem Gruss! Ihre Kafi.

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Bild: Kafi Freitag
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