Familien und Freunde treffen sich, um sich die Bäuche vollzuschlagen mit gefülltem Truthahn, gekochtem Schinken, Süsskartoffeln und sonstigen Leckereien. Die Kanadier sind heute dankbar dafür, dass sie genug zu essen auf dem Tisch haben – und für alles Gute, das ihnen im vergangenen Jahr wiederfahren ist.
Als alle Passagiere einen Sitzplatz gefunden haben, fährt der Bus davon. Er gibt den Blick frei auf ein Schaufenster, in dem Plakate hängen mit perfekt gestylten, bildhübschen jungen Menschen. Sie machen Werbung für den neuesten Look. Doch etwas passt nicht ins Bild: Direkt unter dem Schaufenster liegt ein rot-oranges Etwas, daneben eine blaue Einkaufsrolltasche. Es ist ein Obdachloser, der hier sein Nachtlager aufgeschlagen hat.
Nur ganz wenige Passanten verlangsamen den Schritt und nehmen Notiz von diesem Menschenknäuel. Vermutlich sind es Touristen. Die grosse Mehrheit jedoch läuft am Schaufenster vorbei, als ob nichts wäre. Die Einheimischen haben sich längst an den Anblick von Obdachlosen gewöhnt.
Der neueste «Homeless Count» im März 2016 identifizierte 1'847 Obdachlose auf Vancouvers Strassen. Es ist die höchste Zahl, seit die Zählung 2005 erstmals durchgeführt wurde. Und in Wirklichkeit dürfte die Zahl deutlich höher sein, schreiben die Organisatoren. Denn erstens sind nie alle Obdachlosen auffindbar und zweitens wollen nicht alle an der Umfrage teilnehmen.
Die meisten Obdachlosen leben in Downtown Eastside. Es ist eine offene Drogenszene, wie es sie in Zürich in den 1990er-Jahren am Bahnhof Letten und auf dem Platzspitz gab. Ich fühle mich nicht wohl in meiner Haut, als ich am Nachmittag durch das Viertel laufe. Die Menschen sitzen hier mit ihren wenigen Habseligkeiten auf der Strasse, suchen nach Drogen und setzen sich auf offener Strasse Spritzen.
Nach Einbruch der Dunkelheit wage ich mich nicht mehr nach Downtown Eastside. Doch auch ein paar Blocks weiter ist das Drogen- und Obdachlosenproblem der Stadt offensichtlich: Auf der Granville Street, der Einkaufs- und Ausgehmeile Vancouvers, tummeln sich Obdachlose, Dealer und Drogensüchtige genauso wie Shoppingwütige und Partygänger. Vancouver ist eine boomende Stadt, die Immobilienpreise sind hier in den letzten Jahren so stark gestiegen wie kaum an einem anderen Ort.
Zu Kontakten zwischen den beiden Welten kommt es meist nur, wenn Randständige um Kleingeld oder eine Zigarette bitten. Als ich vor einem Pub eine rauche, fragt mich ein grossgewachsener, schlaksiger Mann mit ausgemergeltem Gesicht: «Hast du eine Zigarette für mich?» Ich gebe ihm eine, er bedankt sich höflich. Dann fragt er mich: «Willst du Koks oder ... ?» Den Namen der zweiten Droge verstehe ich nicht. Ohne nachzufragen schüttle ich freundlich lächelnd den Kopf und sage: «Nein danke.» Er wird fast etwas verlegen und entschuldigt sich dafür, dass er gefragt hat. Dann wünscht er mir einen schönen Abend und zieht davon.
Es ist erstaunlich, aber das Nebeneinander auf engstem Raum scheint relativ reibungslos zu funktionieren. Einige Szenen sind aber fast grotesk: Unmittelbar vor einem Nachtclub namens «Roxy» sitzt ein Obdachloser mit einem Bettelschild. Aus dem Innern des Clubs dröhnt laute Musik, im «Roxy» spielt heute eine Liveband. Der Mann in den abgetragenen Klamotten wippt im Takt der Musik hin und her, während Männer in schicken Hemden sowie Frauen in Highheels und Miniröcken an ihm vorbei in den Club gehen. Die Türsteher lassen den Zuhörer vor dem Eingang gewähren.
Nach acht Stunden auf der Granville Street – ab und zu gönnte ich mir in der Wärme ein Bier – habe ich genug gesehen. Da ich Hunger habe, gehe ich bei McDonalds vorbei, einem der wenigen Orte, an dem es um drei Uhr morgens noch etwas zu essen gibt. Vor dem Eingang sitzt eine junge Frau am Boden unter einer Decke, neben ihr zwei Hunde und ein Koffer. Sie ist offensichtlich obdachlos, sieht aber nicht so mitgenommen aus wie viele andere.
Ich setze mich ein paar Meter neben ihr auf meinen Rucksack und frage: «Hast du Hunger?» Als sie bejaht, gebe ich ihr mein Chicken-Nuggets-Menu. Während sie auf meinen Rucksack aufpasst, hole ich mir ein neues.
Als ich zurück bin, frage ich die 26-Jährige, die sich mir als Bevan vorstellt: «Wieso leben hier so viele Menschen auf der Strasse?» Ihre Antwort: «Weil sie sich keine Wohnung leisten können.» Ich: «Gibt es keine Sozialhilfe in Kanada?» Sie: «Doch, ich kriege vom Staat 250 kanadische Dollar pro Monat (190 Franken). Aber das reicht nicht.» Ich: «Warum hast du keinen Job?» Sie: «Ich habe Probleme mit meiner Wirbelsäule und kann deshalb nicht arbeiten.»
Ich rede über eine halbe Stunde mit Bevan. Kann sie wirklich nicht arbeiten? Ist sie an ihrer Situation mitschuldig? Schwierig zu sagen. Gut möglich, dass sie in ihrem Leben ein paar schlechte Entscheidungen mehr getroffen hat als andere. Von etwas bin ich nach dem Gespräch aber überzeugt: Ein schönes Thanksgiving hatte Bevan in ihrem Leben bisher nie. «Mein Vater hat mich nur einmal zum Lachen gebracht», erzählt sie, «das war, als er sich beim Essen verschluckt hat und beinahe erstickt ist.»
maweiss83
Vielen Dank für den schönen Bericht!
Pasionaria
Einmal mehr sehr einfuehlsam erzaehlt. Vielen Dank, dass Sie die Augen fuer alles und alle offen behalten.
Ihre Schilderungen lassen mir Brechts Sprichwort in Erinnerung rufen:
"Reicher Mann und armer Mann standen da und sah’n sich an,
und der Arme sagte bleich: ‚Wär ich nicht arm wärst du nicht reich."
Diese Worte muessen natuerlich in groesserem Zusammenhang und nicht wortwoertlich gesehen werden.
Es will auf die weltweit vorherrschenden Probleme aufmerksam machen: auf die ungerechte Verteilung von Vermoegen, Wohlstand und Macht.