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Du willst nur das Beste? Voilà:
Vor ein paar Wochen schrieb ich eine Kolumne übers Übergewichtig-Sein. Das kostete mich einiges an Überwindung – ich bin im Nachhinein jedoch sehr froh, es getan zu haben.
Ich habe lange überlegt, ob ich Übergewicht hier als Schwäche bezeichnen soll – weil ich weiss, dass dann Reaktionen kommen wie «Das ist nicht schwach, das ist nur anders». Nun, ich rede hier von mir selbst und für mich ist es eine Schwäche, denn es ist ein Teil meines Lebens, den ich nicht im Griff habe, obwohl ich mir das wünschte. Darum soll es aber hier nicht (nochmals) gehen.
Es soll darum gehen, dass Schwäche und Verletzlichkeit nicht zwangsläufig schlecht sein müssen. Ich habe nach der Publikation jener Kolumne zwei Dinge gelernt:
Verletzlichkeit ist, so empfinde ich es zumindest, einer künstlichen Perfektion gewichen. Obwohl wir alle wissen, dass jeder einzelne von uns seine Unzulänglichkeiten hat.
Erinnert Ihr Euch an den Film «8 Mile», eine Art Autobiographie des jungen Eminem? In einer der Schlussszenen tritt ebendieser in einem Rap-Battle gegen einen anderen jungen Mann an und anstatt diesen lediglich, wie es bei diesen Battles die Regel ist, durchgehend fertig zu machen oder zu beschimpfen, zählt er zusätzlich alle seine eigenen Schwächen auf. Ja, er wohne mit seiner Mutter im Wohnwagen. Ja, jemand habe mit seiner Freundin gevögelt. Ja, sein bester Freund sei so dumm, dass er sich selber ins Bein geschossen habe. «I’m a piece of f****** white trash, I say it proudly.» Und als seine Zeit um ist, wirft er seinem Kontrahenten das Mikrofon zu und sagt:
«Here, tell these people something they don’t know about me.»
Auf meine Kolumne kamen fast keine Angriffe. Ich hatte gesagt, wo’s wehtut, und kaum einer kam auf die Idee, da noch den Finger reinzuhalten. Und das passiert nicht nur bei Äusserlichkeiten, sondern auch bei Verletzlichkeit im Allgemeinen.
Wenn man offen sagt «Ich kann das nicht so gut», dann ist das enorm entwaffnend, teilweise sogar gewinnend. Ich würde sogar soweit gehen, dass es eine Grundlage funktionierender Beziehungen ist, dass man die Fehler des Partners nicht nur toleriert, sondern sie auch liebenswert findet – und wenn nicht den Fehler selbst, dann zumindest den Umgang der Partnerin damit. Denn fehlerfrei ist niemand, kein einziger von uns.
Die (sehr wenigen) Pöbeleien, die nach meiner Kolumne kamen, waren enorm undifferenziert und man sah ihnen auf 20 Kilometer gegen den Wind an, dass sie mehr über diejenigen aussagten, die sie äusserten, als über das Thema an sich.
Und trotzdem kann sowas weh tun und es ist wichtig, einen Umgang damit zu entwickeln, wenn man im Alltag authentisch und damit auch verletzlich sein will.
Wir haben kein Anrecht auf Perfektion seitens unseres Gegenübers. Absolut niemand hat die Pflicht, uns zu gefallen (ästhetisch oder inhaltlich). Und doch haben gewisse Leute das Gefühl, sie hätten genau darauf Anspruch.«Wäh, du bisch hässlich», «Nimm mal ab» oder «Mann, bisch du e Pussy/langwiilig/dumm» an eine fremde Person zu richten, bedeutet doch lediglich, dass mir das Verkünden meines eigenen Empfindens wichtiger ist als der Respekt, den ich von allen anderen mir gegenüber erwarte.
Wie ich in meiner letzten Kolumne schrieb: «Was ich jedoch schwierig finde, ist, wenn Menschen beginnen, Attraktion und Akzeptanz zu vermischen und zu denken, dass das, was sie unattraktiv finden, weniger von ihrem Respekt verdient.»
Wer auf andere eintritt (und damit meine ich nicht konstruktive Kritik an engen Freunden), die zu dem stehen, was sie ausmacht – oft passiert das unter dem «Ich bin ja nur ehrlich»-Mäntelchen oder dem «Ich werd’ doch noch meine Meinung sagen dürfen»-Mäntelchen – ist vielleicht der Unzulänglichste von allen, denn er hat kein Gespür für die Bedürfnisse und den persönlichen Raum anderer Menschen, nur für seinen eigenen. Nur hat er’s (noch) nicht erkannt.
Und so ist unsere Verletzlichkeit auch eine Art Filter für unser Umfeld, denn wer Salz in offen gezeigte Wunden streut, auf den können wir getrost verzichten.
Drum also mein Plädoyer: Kids be free.
Zelebriert das, was Ihr gut könnt, und steht zu dem, was Ihr nicht so gut könnt. Nur die Paarung von beidem stellt Euch wirklich so dar, wie Ihr seid.
Ihr werdet erstaunt sein, welche Reaktionen da kommen. Von Menschen, denen es gleich geht. Und solchen, denen es nicht gleich geht, die Euch aber trotz – oder gerade wegen – Eurer Unzulänglichkeiten schätzen und bewundern.
Ich glaube, das wäre ein Schritt in eine gesunde Richtung, in eine realistische und pragmatische Richtung. Wo wir nicht mehr konstant damit beschäftigt sind, dem illusorischen Anspruch an Perfektion hinterher zu rennen, den wir uns gegenseitig (und auch uns selbst) auferlegt haben. Wo wir uns nicht ständig verstellen müssen und die Menschen sein können, die wir nun halt einmal sind, manchmal auch ohne Regenbögen und Schmetterlinge.
Wenn mir also mal wieder ein «Wäh, du bisch fett» um die Ohren gehauen wird, werde ich – frei nach Eminem – sagen:
«No shit, Sherlock. Tell me something I didn’t know about me.»