Bundesrat Alain Berset hält eine Rede. Sie ist langweilig. Ist sein Redenschreiber im Urlaub? Und muss Madame Berset eigentlich jede Rede ihres Mannes erdulden? Festivalpräsident Marco Solari hält eine Rede. Sie ist irrsinnig lang. Und langweilig. Gelegentlich enerviert er sich, dann belieben Fetzen hängen wie: «La liberté! Artistique! Toujours!»
Die Rede des Festivaldirektors Carlo Chatrian geht ganz unter im Drang der Menschen zum Buffet. Das nach wenigen Sekunden einem gerupften Caprese-Huhn ähnelt. Irgendwie schön ist es trotzdem. Weil es Sommer ist, weil es Süden ist, weil wir Menschen sind und weil wir Kino lieben. Willkommen am 67. Filmfestival von Locarno!
Luc Bessons «Lucy» eröffnet die Piazza Grande. Nun, als Feministin kann ich sagen, dass Luc Besson ein äusserst befriedigendes Oeuvre hat, fast immer geht es um knallharte Frauen, die unglaublich intelligent sind und nicht viel mehr brauchen als Hirn und Waffen. Wir kennen das aus «Nikita», «Léon», «The Fifth Element», «Joan of Arc» und jetzt eben «Lucy».
Herr Besson, heisst der Film «Lucy», weil Lucy ein Luc mit einem Y dran ist? «Klar, ich bin ja ein totaler Angeber!», sagt Luc Besson in einer Gartenlaube im Park Hotel Delta. Vor der Laube diskutieren stinkreiche Kinder über Neymar und haben keine Ahnung, wer Luc Besson ist. Blöde Kinder. «Nein, natürlich nicht», sagt Besson, «die erste Frau, die man entdeckte, wurde Lucy genannt. Sie ist 3,2 Millionen Jahre alt! Und wissen Sie, wie der Professor hiess, der sie entdeckte? Johanson!» Eine Superpointe, denn Scarlett Johansson spielt «Lucy».
Lucy ist, feministisch gesehen, eine absolute Ikone, denn Lucy beginnt zwar als dumme weisse Schnitte in Taipei, wird aber via eine neue Hammerdroge zum intelligentesten Menschen der Welt, so intelligent, dass sie schliesslich nicht etwa mit einem Mann, sondern gewissermassen nur noch mit dem Internet kopulieren kann. Ein Film über Intelligenz also, der selbst allerdings nicht besonders intelligent ist. Aber sehr oft lustig (unfreiwillig?). Und Scarlett Johansson spielt so geradeaus reduziert (schlecht?) wie noch nie.
Aber ganz bestimmt ist der Film nicht langweilig. Er ist eine Orgie aus asiatischem und westlichem Actionkino, unterbrochen von alten Dokumentarfilmsequenzen über das Werden der Welt von Null bis eben Lucy-Scarlett. Viel Kampf, viel Blut, viel Materialverbrauch.
Herr Besson, feministisch gesehen, sind Sie ein Held. Haben Sie schon ein neues Projekt in diese Richtung? «So fragen Sie doch nicht eine Frau, die gerade ein Baby geboren hat, ob sie noch eins möchte! Sie ist erschöpft! Gleichzeitig hab ich das Gefühl, dass mein Baby bereits achtzehn ist und sein Zuhause verlässt, und ich steh an der Tür, wink ihm nach und sag: ‹Komm doch mal wieder!›» Luc Besson weiss, wovon er spricht: Er hat fünf Kinder von vier Ehefrauen. Nur eine dieser vier Ehen blieb kinderlos: Die mit Supermodel Milla Yovovich.
In Amerika ist «Lucy» gerade gestartet, und hat schon am ersten Wochenende die Hälfte seiner Produktionskosten eingespielt. Obwohl die Kritiker ihn nicht unbedingt mochten. «Kritiker! Ich mach doch keine Filme für Leute, die dafür bezahlt werden, Filme zu schauen! Aber der Typ, der nach der Arbeit ins Auto steigt, ein paar Dollar in die Hand nimmt und sagt: ‹Hier, ich bezahl für dich. Ich vertrau dir›, der macht mir Eindruck.»
Lucy spielt in Taipei, Berlin, London und vor allem Paris. Herr Besson, wo sind Sie selbst eigentlich zuhause? Sie sind doch Franzose, oder? «Künstler brauchen keinen Pass! Nehmen wir van Gogh: Der war Holländer und malte eine französische Tulpe, die jetzt in New York hängt. Oder sie können in Alaska Sushi essen und dazu Bob Marley hören.» Aha. Er selbst hörte beim Dreh von «Lucy» Fiona Apple. Ausgerechnet.
Die Antwort auf die grosse Frage des ersten Festivaltags, also auf «Wie verhält sich Melanie Griffith dazu, dass sich ihre Tochter in ‹Fifty Shades of Grey› sexuell traktieren lässt?» lautet so: Melanie Griffith schwor vor allen Leuten, sich den Film nie im Leben anzusehen, weil sie es nicht ertragen würde, ihr «Baby» gefesselt und geschlagen zu sehen. Schon wieder so ein Baby über achtzehn. Verrückte Welt.
«Lucy» läuft ab 14. August in den Schweizer Kinos.