Henri sollte trotz Down-Syndrom ein Gymnasium besuchen, doch Schulleitung, Lehrer und andere Eltern im süddeutschen Baden-Württemberg wollten das nicht. Die Familie ging an die Öffentlichkeit. Was ist seither passiert, welche Schule besucht Henri heute?
10.05.2015, 22:0311.05.2015, 09:31
Lena Greiner / spiegel online
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WAS WURDE AUS ...? Die Recherche-Serie
Über viele Nachrichten und Menschen wird eine Zeit lang sehr ausführlich berichtet – dann verschwinden sie wieder aus den Schlagzeilen. Wie entwickeln sich die Themen weiter, was wurde aus den Personen? Das erklären wir in dieser Serie.
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Vor fast genau einem Jahr, am 18. Mai 2014, sass Kirsten Ehrhardt bei Günther Jauch und versuchte zu begründen, warum sie möchte, dass ihr Sohn Henri ein Gymnasium besucht – obwohl er wohl keinen Schulabschluss, geschweige denn das Abitur packen wird.
Henri hat das Down-Syndrom, deshalb lernt er anders, langsamer und manches gar nicht. Doch seine Eltern wollen, dass er trotzdem bei allem dabei sein kann, dass er nicht in einer Parallelwelt gross wird. So sieht es auch die UNO-Konvention für Behindertenrechte vor, die seit 2009 in Deutschland gilt: Kein Kind soll wegen einer Behinderung von einer Regelschule ausgeschlossen werden.
Nach der Grundschule sollte Henri also aufs Gymnasium wechseln, mit seinen Freunden, darunter auch zwei Kinder mit körperlichen Behinderungen. Doch das Gymnasium in seinem Heimatort Walldorf bei Heidelberg lehnte Henri ab, ebenso wie die örtliche Realschule. «So gut wie alle Kinder aus Walldorf besuchen eine dieser beiden Schulen», sagt Ehrhardt. Die Schulleitungen, Lehrer und einige Eltern konnten sich den Unterricht mit einem geistig behinderten Schüler aber nicht vorstellen. Henri könne doch auf eine Sonder- oder Hauptschule gehen, hiess es.
Henris Eltern wurden wütend: «Keiner will sein eigenes Kind auf eine solche Schule schicken», sagt Ehrhardt. Sie wollten deshalb «keine andere Lösung», schreibt die ehemalige Journalistin in ihrem Buch «Henri – Ein kleiner Junge verändert die Welt», das am 11. Mai 2015 erscheint. Ein Freund der Familie startete eine Petition, knapp 30'000 Menschen unterzeichneten. Zwei Gegenpetitionen folgten, viele Medienberichte, eine bundesweite Debatte: Wollen wir Inklusion, und wenn ja, wie viel?
Ab September darf Henri auf eine Realschule gehen
Heute gibt es keine Homestorys mehr, keine Journalisten- oder Fototermine mit Henri, stattdessen bitten die Eltern für das Gespräch in ein Café in Heidelberger Bahnhofsnähe, Henris Vater, Norbert Hirt, arbeitet hier um die Ecke als Ingenieur. Milchkaffee für Kirsten Ehrhardt, ein grüner Tee für Norbert Hirt. Henri, 12, ist gerade auf Klassenreise, drei Tage im Landschulheim. Die Eltern haben noch nichts von ihm gehört. «Das heisst, dass alles gut ist, oder?», sagt Ehrhardt und lacht.
Henri hat nach der grossen Aufregung im vergangenen Jahr die vierte Klasse noch einmal wiederholt. Der Abschied von seinen alten Freunden sei schade gewesen, sagen die Eltern, Henri sei aber gut aufgenommen worden in der neuen Klasse. Und seit ein paar Wochen steht fest: Die Theodor-Heuss-Realschule, die ihn erst nicht wollte, nimmt ihn doch. Nach den Sommerferien wird Henri dort zur Schule gehen.
Dass es nun doch geklappt hat, liegt auch an einer Gesetzesänderung: Zum kommenden Schuljahr soll in Baden-Württemberg die Sonderschulpflicht abgeschafft werden. Dann können die Eltern entscheiden, ob ihr Kind eine Regel- oder eine Sonderschule besuchen soll.
Wie seine Mitschüler wird Henri ab September mit dem Bus zur Schule fahren, ein persönlicher Schulbegleiter wird ständig bei ihm sein, und neben der Lehrkraft wird ein Sonderpädagoge die erste Inklusionsklasse in Walldorf unterrichten. «Henri freut sich und ist total glücklich», sagt Ehrhardt. Schon beim Kennenlern-Nachmittag hätten ihn viele gegrüsst. «Henri ist bekannt hier im Ort», sagt die Mutter, «und andere Kinder wollen sich mit ihm verabreden, nicht aus Mitleid, sondern weil sie ihn mögen, ihn witzig und cool finden.»
Eltern werden im Ort nicht mehr gegrüsst
Dass es nun doch geklappt hat, liegt aber auch an Henris Eltern. Ehrhardt ist eine Frau, für die es kein schlechtes Wetter gibt, sondern nur die falsche Kleidung. Ihren Job als Radiomoderatorin hat sie aufgegeben, seit zwei Jahren ist sie nun Projektleiterin eines Vereins, der in Baden-Württemberg für Inklusion kämpft. «Wenn Sie ein Kind mit Behinderung haben und immer darauf warten, bis Sie irgendwo ausdrücklich willkommen geheissen werden, können Sie gleich zu Hause bleiben», sagt sie. Und wer nicht wolle, der müsse sein nicht-behindertes Kind ja nicht für eine Inklusionsklasse anmelden.
Ehrhardt und Hirt sind freundliche Menschen, sie haben sich im vergangenen Jahr aber nicht nur Freunde gemacht. Einige Leute im Ort grüssen die Familie nicht mehr oder tuscheln im Supermarkt, erzählt Hirt. Doch: «Es war nötig, zu kämpfen. Das heutige Ergebnis hätten wir sonst nicht erreicht.» Sicherlich wäre es manchmal einfacher, Henri auf eine Sonderschule zu schicken – auch für die Familie, sagt Hirt. Dann würde er morgens abgeholt und nachmittags zurückgebracht werden.
Doch, so der Vater: «Henri braucht später einen Beruf.» Und dafür soll er lesen, schreiben und rechnen lernen, so gut es geht, nicht nur bügeln oder wie man Obst schnippelt. «Wir werden irgendwann nicht mehr da sein», sagt Hirt. «Und dann muss er mit seinem Leben klarkommen. Das lernt er nicht abgeschirmt von der Aussenwelt.»
«Ich Brezel», «Du doof»
Henri wird sich vielleicht auch weiterhin zuerst Schuhe und Strümpfe ausziehen, wenn er in das Klassenzimmer kommt. Er wird bestimmt manchmal nicht mitmachen wollen. Vielleicht nicht einmal den Raum betreten oder verlassen. Er wird, wenn er eine richtige Antwort ankreuzen soll, alle ankreuzen. Und hin und wieder das Verb im Satz vergessen: «Ich Brezel» für «Ich möchte eine Brezel», «Du doof» für «Du bist doof».
«Aber», sagt seine Mutter, «mit allen anderen Kindern zur Schule zu gehen ist Henris Recht, keine Gnade.»
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