Paul B. Preciado ist Philosoph. Im vergangenen Winter hiess er noch Beatriz und war eine halbwegs normale Lesbe. Eine allerdings, die zu Forschungszwecken Testosteron konsumierte. Das Resultat: Sie fühlte sich entscheidungsfreudiger, war klarer im Kopf, wollte mehr Sex und verdiente besser. Sie wurde süchtig. Ihr Frausein begann sich aufzulösen, sie wurde zu einem radikalen Versuchslabor der Identitätsfindung.
Für ein Geschlecht entscheiden will sie sich aber nicht. Die Transitzone, in der sie sich befindet, ist viel zu aufregend. Das «B.» nach dem «Paul» steht immer noch für Beatriz. Und jetzt nervt sich also der Trans-Mensch Paul B. Preciado über den Trans-Menschen Caitlyn Jenner, der im vergangenen Winter noch Bruce hiess. Caitlyn (65) könnte Pauls (45) Mutter sein. Bruce hätte Beatriz' Vater sein können. Und wie es sich für ein Kind gehört, nimmt Preciado das Leben von Jenner nun unter die Lupe und auseinander.
Preciado will die restlose Befreiung der Menschen vom Joch der Geschlechterzuordnung. Er will, dass Trans-Menschen tatsächlich auch zwischen den Geschlechtern sein dürfen. Dass man ihnen nicht ansehen muss, ob sie vielleicht als Mann oder Frau zur Welt gekommen sind. Dass also auch Kinder mit «unklaren genitalen Verhältnissen» (so schön kann das nur die NZZ beschreiben ...) nicht zurecht operiert werden, bis sie einer von zwei Normen entsprechen.
Jenner ist zwar vom einen Geschlecht ins andere geschlüpft, propagiert aber die alte Ordnung des Zweierlei. Von Mann und Frau. Denn Caitlyn Jenner ist konservativ und eine Republikanerin. Bruce Jenner war ein amerikanischer Held, ein schlechter Schüler, der vor seiner Leseschwäche einfach davonrannte. Und der so schnell war, dass er damit olympisches Gold gewann. Sein Leben berechnete er in Siegen und Niederlagen. Leider hörten die Siege irgendwann auf, und Bruce Jenner als Werbefigur auf Frühstücksflocken war das letzte Bild, was von ihm im kollektiven Gedächtnis von Amerika so richtig haften blieb.
Jetzt ist er erneut ein amerikanischer Held beziehungsweise eine Heldin. Auf Google ist sie Anfang Juli 2015 sieben Mal präsenter als seine omnipräsente Stieftochter Kim Kardashian. Was für ein Sieg. Jetzt gehört ihr jeder Scheinwerfer Amerikas. Die aktuelle «Vanity Fair» trägt einzig ihr Bild und ihre Geschichte auf dem Titel. Nichts anderes. Das gab's noch nie. Caitlyns Tweets erreichen höhere Frequenzen als jene von Obama.
Jetzt, in diesem Sommer, ist sie die prominenteste Person der Welt. Die prominenteste Frau. Und so, wie sie vorher ein konservativer, republikanischer Mann war, sagt Paul B. Preciado, ist sie jetzt eine konservative republikanische Frau. Früher redete sie vom Sport, jetzt redet sie plötzlich von Kleidern und von der Familie. Von Familienwerten. Davon, dass es ihr jetzt, als Frau, endlich möglich sein werde, gut zu ihrer Familie – ja sogar ihren Familien – zu sein.
Denn als Mann war sie halt ein Mann – und rannte davon. Jetzt will der schlechte Vater eine gute Mutter werden. Jetzt will sie all die tollen konservativen Frauenwerte verkörpern. Und natürlich in einer neuen Reality-Show, die sie seit Mai dreht. Ihre Kinder aus erster und zweiter Ehe sind davon kein bisschen begeistert, aber Caitlyn Jenner braucht das, die Reflektion durch die Medien. Sie sind ihre Droge. Sind für sie, was das Testosteron für Beatriz Preciado war. Und je mehr die Medien sie spiegeln, desto mehr zementieren sie auch das konservative Bild von den zwei einzig gültigen Geschlechtern. Von Mann und Frau.
«Es gibt», sagt Preciado, «keinen linearen Zusammenhang zwischen einer Verbesserung der Bürgerrechte für Trans-Menschen und ihrer Sichtbarkeit in den Medien. Jenners Sprung auf die Frontseiten ist zugleich ein strategischer Zug, um sich Anerkennung zu verschaffen, aber auch der Prozess einer Geschlechterkontrolle und Überwachung durch die Medien.» Die Medien, die Caitlyn Jenner so gekonnt entfesselte, halten sie nun an der Leine des Gehorsams. Der Anständigkeit. Der Unanstössigkeit.
Und weil Caitlyn Jenner jetzt eben eine Sauberfrau ist, spricht sie auch nicht über schmutzige Dinge wie Sex und Begehren. Sie ist jetzt eine asexuelle Dame im geschnürten weissen Korsett auf dem «Vanity Fair»-Cover, im Bondage-artig gewickelten weissen Versace-Dress auf der ESPY-Gala.
Bruce Jenner hat Caitlyn erfunden. Und der war, bei allem persönlichen Unbehagen, ein Mann mit einem sehr klassischen Frauenbild. Nach diesem hat er sich jetzt neu erschaffen. Natürlich darf er das. So, wie auch jeder Republikaner eine Geschlechtsumwandlung vornehmen darf.
Aber in diesem Sommer ist Caitlyn Jenner nun einmal die prominenteste Frau der Welt. Und als solche hat sie die Möglichkeit, enorm viel zu bewirken. Wenn sie sich jetzt auch noch den subversiven Gedanken-Experimenten und Lebensentwürfen der Queer-Community gegenüber öffnen würde, dann wäre sie eine echte Heldin. Und nicht nur ein Ex-Spitzensportler und Reality-Superstar mit einer unstillbaren Gier nach Ruhm und Bestätigung.