Der Skandal um eine mutmassliche Beteiligung einiger Mitarbeiter des UN-Palästinenserhilfswerks am Massaker der islamistischen Hamas in Israel zieht immer grössere Kreise. Rund zehn Prozent aller rund 12'000 im Gazastreifen beschäftigten Mitarbeitenden des Hilfswerks UNRWA hätten Verbindungen zur Hamas oder dem Islamistischen Dschihad, berichtete das «Wall Street Journal» am Montag unter Berufung auf ein israelisches Geheimdienstdossier.
Derweil sollen die Gespräche über eine mögliche neue Feuerpause im Gaza-Krieg und die Freilassung weiterer Geiseln in dieser Woche weitergehen. Während Washington bisher vorsichtig optimistisch ist, soll die Hamas laut israelischen Medienberichten am Montagabend erklärt haben, kein Abkommen zu akzeptieren, das nicht ein Ende des Kriegs und den Abzug aller israelischen Truppen aus Gaza beinhalte.
Die Vorwürfe gegen zwölf UNRWA Beschäftigte wegen mutmasslicher Beteiligung am Hamas-Massaker hatten weltweit für Empörung gesorgt. Als Reaktion stellten zahlreiche Staaten ihre Zahlungen an das Hilfswerk vorübergehend ein, darunter Deutschland, die USA, Grossbritannien und Frankreich. US-Aussenminister Antony Blinken forderte erneut eine schnelle Aufklärung. Das Hilfswerk spiele «eine absolut unverzichtbare Rolle dabei, sicherzustellen, dass Männer, Frauen und Kinder, die in Gaza so dringend Hilfe benötigen, diese auch tatsächlich erhalten», sagte Blinken am Montag in Washington.
Das UN-Hilfswerk feuerte die Mitarbeiter und will den Vorwürfen nachgehen. «Das Problem der UNRWA sind nicht nur 'ein paar faule Äpfel', die in das Massaker vom 7. Oktober verwickelt waren», zitierte das «Wall Street Journal» einen hohen israelischen Regierungsbeamten. «Die Institution als Ganzes ist ein Hort für die radikale Ideologie der Hamas», sagte der Beamte. «UNRWA steckt schon lange mit den Terroristen unter einer Decke», sagte Israels Botschafter in Deutschland, Ron Prosor, dem «Tagesspiegel» (Dienstag). Schon die Attentäter des Münchner Olympia-Massakers von 1972 seien Absolventen von Schulen des UN-Hilfswerks gewesen.
Die US-Regierung hat unterdessen nach dem tödlichen Angriff proiranischer Milizen auf US-Militär in Jordanien deutlich gemacht, keine Eskalation mit dem Iran zu suchen. «Wir sind nicht auf einen Krieg mit dem Iran aus. Wir suchen nicht den Konflikt mit dem Regime auf militärische Weise», sagte der Kommunikationsdirektor des Nationalen Sicherheitsrats, John Kirby, am Montag in Washington. Man wolle keinen weiteren Krieg und keine Eskalation. «Aber wir werden das tun, was erforderlich ist, um uns zu schützen, um diese Mission fortzusetzen und um angemessen auf diese Angriffe zu reagieren.»
Am Sonntag waren bei einem Drohnenangriff proiranischer Milizen in Jordanien in der Nähe der syrischen Grenze drei US-Soldaten getötet worden. US-Präsident Joe Biden machte «radikale, vom Iran unterstützten militanten Gruppen» für den Angriff verantwortlich und drohte mit Vergeltung. Dem «Wall Street Journal» zufolge sagten US-Regierungsvertreter, erwogen würden Militärschläge gegen Milizen im Irak in Syrien sowie womöglich im Iran. Ein Angriff auf iranischem Boden sei allerdings ein weniger wahrscheinliches Szenario, hiess es.
Die USA zeigten sich derweil vorsichtig optimistisch mit Blick auf eine mögliche neue Feuerpause im Gaza-Krieg und die Freilassung weiterer Geiseln. «Wir können noch nicht über ein bevorstehendes Abkommen sprechen, aber auf der Grundlage der Gespräche, die wir am Wochenende und in den letzten Tagen geführt haben, haben wir das Gefühl, dass es in eine gute Richtung geht», sagte der Kommunikationsdirektor des Nationalen Sicherheitsrats, John Kirby, am Montag in Washington.
Am Wochenende hatten Vertreter der USA, Israels, Ägyptens und Katars in Paris über eine neue Feuerpause beraten. Es seien gute Fortschritte gemacht worden, um zumindest den Grundstein für einen Weg nach vorne zu legen, sagte der katarische Ministerpräsident und Aussenminister Mohammed bin Abdulrahman Al Thani dem US-Sender MSNBC.
Vor den Beratungen habe es eine klare Forderung nach einem dauerhaften Waffenstillstand gegeben – diese Möglichkeit bestehe, sagte Al Thani. Der «Times of Israel» zufolge pochte die Hamas am Montagabend in einer gemeinsamen Erklärung mit der Terrorgruppe Volksfront für die Befreiung Palästinas (PFLP) darauf, dass Israel seine «Aggression» beenden und sich aus Gaza zurückziehen müsse, bevor ein Abkommen zustande kommen könne. Laut Schätzungen befinden sich noch etwas mehr als 130 Menschen in der Gewalt der Islamisten.
Nach israelischer Darstellung wurde inzwischen mindestens die Hälfte der Hamas-Kämpfer getötet oder verwundet. «Wir haben bereits mindestens ein Viertel der Hamas-Terroristen ausgeschaltet, und es gibt eine ähnliche Zahl verwundeter Terroristen», sagte Verteidigungsminister Joav Galant am Montag. Unabhängig lassen sich seine Angaben gegenwärtig nicht überprüfen. Wie das Nachrichtenportal «Axios» am Montag unter Berufung auf vier US-amerikanische und israelische Beamte berichtete, hat Galant der US-Regierung versichert, dass er und das Militär eine Wiederbesiedlung Gazas durch Israelis verhindern würden. Eine geplante Pufferzone in dem Gebiet werde vorübergehender Natur sein und nur Sicherheitszwecken dienen.
Die Lage in Nahost ist nach Einschätzung von US-Aussenminister Blinken so gefährlich wie lange nicht mehr. «Ich behaupte, dass wir in der gesamten Region seit mindestens 1973 – vielleicht sogar davor - keine so gefährliche Situation mehr erlebt haben wie jetzt», sagte Blinken am Montag in Washington bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg. Mit der Jahreszahl bezog er sich wahrscheinlich auf den Jom-Kippur-Krieg, der am 6. Oktober 1973 begonnen hatte, als eine Allianz arabischer Staaten unter Führung Ägyptens und Syriens überraschend Israel überfiel. Damals wurden mehr als 2600 israelische Soldaten getötet und mehr als 7000 verletzt.
Die UN-Sonderbeauftragte für sexuelle Gewalt in Konflikten, Pramila Patten, führt in Israel Gespräche mit Überlebenden des Hamas-Massakers. Laut dem israelischen Aussenministerium sind auch Treffen mit Zeugen, Experten für Opferhilfe sowie Vertretern der Polizei und der Sicherheitskräfte geplant, die ihr über die sexualisierte Gewalt der Hamas gegen Frauen und Männer berichten. (sda/dpa)