Israels Streitkräfte haben sich im Norden des Gazastreifens, wo sie die Kampfeinheiten der islamistischen Hamas weitgehend aufgelöst hatten, erneut schwere Kämpfe geliefert. Die Armee habe ihre Einsätze im Norden sowie im zentralen Abschnitt des abgeriegelten Küstenstreifens intensiviert, berichtete die «Times of Israel» am Dienstag. Auch 200 Tage nach Kriegsbeginn wurden erneut Raketen aus Gaza auf Israels Grenzorte abgefeuert. Im Norden des abgeriegelten Küstengebiets droht laut Experten weiterhin eine Hungersnot. «Das Risiko einer Hungersnot im gesamten Gazastreifen ist sehr hoch, insbesondere im Norden», sagte David Satterfield, Sonderbeauftragter von US-Präsident Joe Biden für humanitäre Fragen im Nahen Osten. Der von den USA angekündigte Bau eines temporären Hafens zur Lieferung von Hilfsgütern in das Küstengebiet wird nach Angaben des Pentagons bald beginnen. Derweil billigte der US-Kongress mit Zustimmung des Senats gut 26 Milliarden Dollar an Unterstützung für Israel, unter anderem für die Raketenabwehr. Rund neun Milliarden Dollar sind für humanitäre Hilfe gedacht, darunter für den Gazastreifen.
Die aktuellen Entwicklungen im Liveticker:
Das Wiederaufflammen der Gewalt in zuvor eingenommenen und weitgehend geräumten Gebieten im Norden Gazas zeige, wie schwer sich Israels Armee damit tue, die Lage unter Kontrolle zu bringen, schrieb das «Wall Street Journal» am Dienstag (Ortszeit). Einem israelischen Verteidigungsbeamten zufolge halten sich im nördlichen Gazastreifen immer noch mehrere tausend Kämpfer der Hamas auf, hiess es. Die andauernden Kämpfe seien mit Blick auf die von Israel geplante Bodenoffensive gegen die letzten Bataillone der Hamas in Rafah im Süden Gazas ein «ernüchterndes Beispiel für die Schwierigkeit, Erfolge zu konsolidieren». Die Kontrolle über den Norden Gazas zu halten und zu festigen, brauche Zeit, zitierte die Zeitung einen ehemaligen Vize-Kommandeur des israelischen Militärs. Berichten zufolge rückt eine Bodenoffensive in Rafah an der Grenze zu Ägypten näher. Die dort vor den Kämpfen Schutz suchenden Hunderttausenden von Zivilisten sollen zuvor evakuiert werden.
Der für humanitäre Hilfe zuständige EU-Kommissar Janez Lenarcic rief angesichts der katastrophalen Lage der Menschen in Gaza dazu auf, das umstrittene Palästinenserhilfswerk UNRWA zu unterstützen. «Ich rufe die Geberländer auf, das UNRWA zu unterstützen – die Lebensader für die palästinensischen Flüchtlinge», schrieb er am Dienstag auf der Plattform X (vormals Twitter). Er begrüsste den am Vortag veröffentlichten Untersuchungsbericht über das UNRWA, da dieser «die zahlreichen Systeme des Hilfswerks zur Einhaltung der Vorschriften sowie die Empfehlungen für deren weitere Verbesserung» hervorhebe.
UNRWA war im Januar in die Schlagzeilen geraten, weil Israel behauptete, zwölf Mitarbeiter seien in das Massaker der Hamas vom 7. Oktober verwickelt gewesen und die Organisation als Ganzes von der Hamas unterwandert. Einige der wichtigsten Geldgeber, darunter Deutschland, setzten Zahlungen daraufhin vorübergehend aus. Die USA nehmen die Zahlungen noch nicht wieder auf. Der Kommunikationsdirektor des Nationalen Sicherheitsrates der US-Regierung, John Kirby, sagte am Dienstag die Finanzierung des UNRWA bleibe «natürlich noch immer ausgesetzt. Wir müssen hier echte Fortschritte sehen, bevor sich das ändert.» Die USA würden weiter mit anderen Hilfsorganisationen zusammenarbeiten, um sicherzustellen, dass die Menschen nötige Unterstützung erhielten.
Die US-Regierung hatte im März angekündigt, angesichts der humanitären Notlage im Gazastreifen einen temporären Hafen vor der Küste einrichten zu wollen, um Lebensmittel, Wasser und Medikamente in das Kriegsgebiet zu bringen. «Wir sind in der Lage, sehr bald mit dem Bau zu beginnen», sagte Pentagon-Sprecher Ryder. «Alle erforderlichen Schiffe befinden sich im Mittelmeerraum». Die USA hatten angesichts der katastrophalen humanitären Lage im Gazastreifen kürzlich ihren Verbündeten Israel zur raschen Ausweitung der Hilfslieferungen für die Zivilbevölkerung aufgefordert. Inzwischen habe Israel «bedeutende Schritte» unternommen, um den Fluss von Hilfen zu verbessern, sagte der US-Sonderbeauftragte für humanitäre Fragen, Satterfield. Es müsse aber noch mehr getan werden. Es bestehe immer noch die Gefahr einer Hungersnot im Norden Gazas, hiess es.
Sollten die Menschen im Gazastreifen in grossem Umfang zu verhungern beginnen, werde es nach Einschätzung von Experten zuerst den Norden treffen und dort zuerst die Schwächsten, schrieb die «New York Times» am Dienstag und nannte Kinder mit Vorerkrankungen, ältere Erwachsene und Säuglinge. Die Zeitung schilderte in ihrem Bericht unter anderem den herzzerreissenden Fall eines während des Kriegs zur Welt gekommenen Babys in Gaza, das nach Schilderung seiner Eltern seit seiner Geburt noch nie eine volle Mahlzeit zu essen bekommen habe. Nach einem kürzlichen Bericht der Organisation Oxfam sind die Menschen im nördlichen Gazastreifen seit Januar gezwungen, mit durchschnittlich 245 Kalorien pro Tag zu überleben. Demnach leben dort noch mehr als 300'000 Menschen. An diesem Mittwoch wird in Genf ein Bericht der UN über Hunger weltweit vorgestellt.
(sda/dpa/con)