Deutschlands Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier verzichtete aus Sicherheitsgründen auf einen geplanten Besuch in Kiew, Bundespräsident Ignazio Cassis und eine kleine Schweizer Delegation mit Ihnen ist hingereist. War Ihnen wohl dabei?
Marianne Binder: Es liegt nicht an mir, die Überlegungen des Deutschen Bundespräsidenten zu beurteilen, für mich massgebend waren diejenigen der Schweizer Sicherheitskräfte. Dieser Besuch wurde von ihnen und dem Aussendepartement EDA minutiös analysiert und geplant. Der Entscheid, ob wir gehen, wurde laufend überprüft. Es gab aus Sicherheitsgründen auch keine Information der Öffentlichkeit und keine Medienbegleitung.
Stutzten Sie nicht, als Steinmeier seine Reise abgeblasen hat?
Eine ukrainische Mitarbeiterin der Schweizer Botschaft in Kiew sagte mir, als diese Frage diskutiert wurde: «Wenn ihr euch fürchtet, was will man denn denen sagen, die hier auf den Botschaften arbeiten? Was will man allen Ukrainerinnen und Ukrainern damit sagen?» Sie hat es auf den Punkt gebracht.
Seit wann wussten Sie, dass es diese Reise geben würde?
Die Anfrage, ob ich mir bei diesem Regierungsbesuch auch als Parlamentsmitglied ein Bild verschaffen wolle, erfolgte vor knapp 14 Tagen.
Welchen Eindruck erhielten Sie von Wolodimir Selenski?
Den gleichen, den ich auch aus der Ferne habe. Selenski ist authentisch und benennt klipp und klar die Bedürfnisse seines Landes. Es war ein langes, intensives Arbeitsgespräch zwischen den beiden Präsidenten, alles andere als ein Austausch von Nettigkeiten. Wenn man ihm gegenübersitzt, dann lässt einen nicht unberührt, welche Verantwortung dieser junge Mensch und seine Regierung tragen.
Sieht man ihm das an?
Das alles hat ihn gezeichnet. Selenski führt den Widerstand an gegen die russischen Invasoren - bei all den Fürchterlichkeiten, welche diese in der Ukraine anrichten. Die Entschlossenheit, mit der er für die Freiheit der Ukraine einsteht, ist eindrücklich. Man spürt hautnah, warum er in seinem Land so getragen wird und weshalb er so überzeugt.
Die Reise und ein Tweet von Cassis, in dem er seiner Bewunderung für die ukrainischen Kämpfer zum Ausdruck brachte, waren ein klarer Positionsbezug für die Ukraine. Verletzt das nicht die Neutralität?
Nein. Neutralität heisst nicht Indifferenz. Die Ukraine ist ein freies Land, das von Russland auf brutale Weise überfallen wird. Es ist eine Verletzung des Völkerrechtes sondergleichen. Wenn Neutralität für einen Rechtsstaat wie die Schweiz bedeutet, Recht und Unrecht nicht klar zu benennen, haben wir Neutralität falsch verstanden. Die Ukraine verteidigt das, was wir für uns völlig selbstverständlich ist: Selbstbestimmtheit und Freiheit. Sich da aus der Verantwortung zu ziehen mit nebulösen neutralitätspolitischen Interpretationen, heisst, die eigenen Werte aufzugeben.
Für Russland ist die Schweiz ohnehin längst «Kriegspartei», auch Christoph Blocher und Roger Köppel sehen das so. Und Sie?
Die Schweiz steht für den Rechtsstaat. Damit ist sie positioniert. Wenn die russische Führung das als «Kriegspartei» sieht, verhöhnt sie unsere Demokratie. Ich habe keine Ahnung, was Blocher und Köppel umtreibt, warum sie als stramme und zusätzlich politisch rechts positionierte Eidgenossen dem ehemaligen KGB-Chef der kommunistischen Sowjetunion dauernd das Wort reden. Die beiden haben offensichtlich ein Flair für Autokraten.
Appalled by the #war of aggression against civilian infrastructure and moved by the #resilience of Ukraine 🇺🇦 and its citizens in #Borodyanka & #Ivankiv. 🇨🇭humanitarian aid and reconstruction #support are needed to overcome winter and beyond. pic.twitter.com/RD8jsdMlLA
— Ignazio Cassis (@ignaziocassis) October 20, 2022
Die Mitte, insbesondere Parteipräsident Gerhard Pfister, hat sich seit Kriegsausbruch sehr dezidiert zugunsten der Ukraine geäussert und plädierte gar für Waffenlieferungen. Nun ist es ruhiger geworden. Findet eine leise Kurskorrektur statt?
Überhaupt nicht. Wenn wir die Saudis direkt beliefern, scheint es absurd, nicht wenigstens Munition freizugeben für Waffen, die bereits verkauft sind. Noch absurder; Wir gaben nicht einmal alle Schutzwesten frei.
War das ein Thema in Kiew?
Im Gespräch mit Selenski ging es nicht um Waffen, sondern um schnelle Aufbauhilfe. Der Winter steht vor der Türe. Wir haben ein Dorf besucht, in dem die Russen in ihrer beispiellosen Zerstörungswut 85 Häuser dem Erdboden gleichgemacht haben. Besonders erschütternd für mich: der Ball in den Ruinen:
Es war bitterkalt an diesem Tag. Wir konnten eines der Fertigholzhäuser besichtigen, welche der Schweizer Unternehmer Huber für die momentan obdachlosen Menschen herstellt. Spenden sind übrigens hier sehr erwünscht. Empfangen hat uns die Gemeindepräsidentin, welche sich in der Zeit der russischen Besatzung verstecken musste. Eine herzhafte Persönlichkeit mit Kraft und Zuversicht.
Haben Sie keine Angst, dass die Stimmung in der Schweiz kippen könnte, wie das in Italien schon geschehen ist, wo eine Mehrheit die Sanktionen inzwischen ablehnen – auch vor dem Hintergrund der Energiekrise?
Angst oder nicht Angst. Wir haben keine andere Wahl. Dieser Angriffskrieg auf ein freies europäisches Land betrifft uns alle. Die Ukraine verteidigt unsere Interessen und unsere Werte. Ich habe den Tweet von Meloni an Selenski gelesen, wo sie ihm sagt, dass Italien immer an der Seite des ukrainischen Volkes stehen werde, dass die Ukraine nicht allein sei, dass sie für ihre rechtmässige Freiheit kämpfe. Das ist ein klarer Positionsbezug. Er stimmt zuversichtlich, was die internationale Solidarität mit der Ukraine betrifft.
Many thanks @ZelenskyyUa. Italy is and will always be on the side of the brave people of Ukraine that is fighting for its freedom and for a rightful peace. You are not alone!
— Giorgia Meloni 🇮🇹 ن (@GiorgiaMeloni) October 22, 2022
Wie kann die Schweiz der Ukraine helfen, ohne die Neutralität zu verletzen?
Indem sie in ihrem ureigensten Interesse handelt: Der Demokratie und der Freiheit zum Durchbruch zu verhelfen. Indem sie das tut, was sie unter Neutralität versteht, nämlich zum Frieden und zur Sicherheit in Europa und jenseits der Grenzen Europas beizutragen. Die Ukraine erwartet von der Schweiz nicht, dass sie Waffen liefert, aber überall sonst kann sie Unterstützung leisten.
Wo konkret?
Im humanitären Bereich, beim Aufbau der Wohnhäuser beispielsweise, bei der Verfolgung der Menschenrechtsverletzungen, aber auch beim Aufbau der Verkehrswege, der Elektrizität, der Wirtschaftsinfrastrukturen, der Energieinfrastrukturen, welche die Russen momentan angreifen. Die Ukraine braucht Wirtschaftshilfe und Finanzen für den Aufbau und die Stabilisierung. Und dies jetzt. All dies, damit die Menschen im Land bleiben. Und zu guter Letzt verletzt es die Neutralität nicht im geringsten, wenn wir die unerhörte russische Propaganda eindämmen.
Wie lange wird die Solidarität in der Schweiz mit den rund 65'000 Flüchtlingen aus der Ukraine halten - vor allem, wenn der Zustrom weiter anhält?
Selenski selbst drückte seine Dankbarkeit aus über diese Aufnahme, aber er möchte dass die Menschen zurückkehren. Wollen wir also den Zustrom vermindern, dann braucht es einen grossen, auch internationalen finanziellen Einsatz für die Aufbauhilfe vor Ort. Und zwar schnell. Das müsste doch auch denjenigen passen, welche Flüchtlingsströme immer geisseln und Hilfe vor Ort fordern.
Was antworten Sie jenen Stimmen, in der Schweiz insbesondere aus der SVP, die einen schnellstmöglichen Frieden fordern, nötigenfalls unter Inkaufnahme von Gebietsabtretungen der Ukraine an Russland?
Wenn man sieht, was die Russen in den besetzten Gebieten anrichten, kann man den Ukrainerinnen und Ukrainern doch nicht ernsthaft zumuten, diese Menschen-und Völkerrechtsverletzungen zu legitimieren. Und diejenigen Stimmen in der SVP, die das fordern, sollen aufhören, am 1. August Loblieder auf die freie Schweiz zu singen und Schillers Pathos in Wilhelm Tell zu verbreiten, wo bekanntlich lieber in Freiheit gestorben wird als in Knechtschaft gelebt. Es ist klar: Hört Russland auf zu kämpfen, ist der Krieg vorbei, hört die Ukraine auf, die Ukraine. Das gälte auch bei einem Überfall auf die Schweiz. (bzbasel.ch)
Wir können nicht kämpfen aber unterstützen ohne wenn und aber und ohne sich hinter einer falsch verstandenen Neutralität verstecken. Wir legen damit den Boden um in Zukunft in Freiheit eine richtige Neutralität zu stützen.