Wir merken oft gar nicht, wenn unser Gegenüber mit uns flirtet. Woran liegt das?
Esther Elisabeth Schütz: Flirten ist ein sehr offenes Feld. Ob geflirtet wird oder nicht, kann man nicht immer klar sagen. Gerade Jugendliche sind ja oft «Kollege mit allen». Die jungen Leute küssen sich auf den Mund, einfach so. Da verschwimmen die Grenzen zunehmend.
Und bei Erwachsenen?
Insgesamt herrscht eine grosse Erwartung in unserer Gesellschaft: Überall wird das Flirten angepriesen. Es ist omnipräsent – auch in der Werbung. Trotzdem habe ich den Eindruck, dass Männer und Frauen heute weniger bewusst flirten.
Laut der Studie merken vor allem die Frauen nicht, dass mit ihnen geflirtet wurde.
Ja, die Männer sind heute eher zurückhaltend. Sie sind zwar kommunikativer, können sich in Situationen hereinfühlen, wollen aber nicht zu offensiv sein. Viele sagen auch ganz explizit: «Ich will kein Macho sein» und suchen lieber einen anderen Weg.
Woran liegt das?
Die Männer werden weiblich sozialisiert. Das ist eigentlich eine gute Entwicklung und beinhaltet auch Gleichstellungsfragen. Aber für mich als Sexologin ist es Zeit, dass wir wieder einen neuen Blick bekommen auf die Geschlechter.
Das heisst?
Eine Frau ist eine Frau und ein Mann ist ein Mann. Das muss wieder klarer definiert werden. Die Männlichkeit ist zurückgestellt worden, zu Gunsten anderer Dinge: Dass es der Beziehung oder der Familie gut geht, dass Frauen mit den Männern reden können. Dafür ist der Part «Ich bin ein Mann, ich darf offensiv sein, ich darf sexuell begehren, ich kann das zeigen» heute für viele junge Männer eine Herausforderung. Es gibt heute mehr junge Männer, die eine Sexualtherapie machen.
Und Sie raten den Männern, wieder aktiver und offensiver zu flirten?
Auf jeden Fall! Männer sind heute oft verunsichert wegen des verstärkten Diskurses über die sexuelle Ausbeutung der Frau. Das ist ein Problem, das thematisiert und bekämpft werden muss. Doch es löst auch etwas bei den Männern aus: Häufig schauen sie die Frauen gar nicht mehr richtig an: Becken, Taille, Hüfte, Po, Brüste. Im Internet haben Männer viele Möglichkeiten, doch in der Realität herrscht Verunsicherung.
Machen Sie bei Ihrer Arbeit auch die Erfahrung, dass Frauen das Gefühl haben, sie werden kaum noch angeflirtet?
Ja. Dafür haben Frauen dieses Direkte und Klare von den Männern zum Teil übernommen.
Woran kann ich erkennen, dass jemand mit mir flirtet?
Das Flirten hat Gesetzmässigkeiten. In einem Flirt hat man eine bestimmte Muskelspannung, man signalisiert: «Ich will». Und wenn jemand etwas will, dann steht er oder sie nicht lustlos herum, sondern in einer gewissen Grundspannung. Und die zeigt sich auch im Blick, denn in der Regel entsteht der Flirt über die Augen. Das Begehren in den Augen ist wie ein Feuer, klar und markant.
Woran erkennt man den Flirt noch?
Wenn jemand etwas will, dann will er auch gesehen werden, das zeigt sich in der Körperhaltung: Man ist der anderen Person zugewandt. Durch die Körperspannung ist man beim Flirten auch ein Stück grösser, wirkt selbstsicherer, die Pupillen weiten sich. So erkennen auch aussenstehende Personen, dass da geflirtet wird. Und die Neugier in den Augen hat ihren Spiegel auch in den Worten.
Was passiert genau beim Flirten?
Das erotische Spiel des Flirtens hat immer eine Verbindung zur sexuellen Erregung. Das heisst, beim Flirten fliesst das Blut beim Mann ein wenig in die Schwellkörper vom Penis und bei der Frau in die Klitoris. Viele sind sich dessen jedoch gar nicht bewusst.
Was raten Sie?
Wer das eigene Geschlecht über das Spiel mit den Muskeln auch beim Flirten bewusst wahrnimmt, intensiviert das erotische Gefühl. Über die Bauchatmung und eine leichte Bewegung im Becken bleibt Mann oder Frau mehr bei sich und flirtet aus der eigenen Sicherheit.
Aber merkt das mein Gegenüber nicht?
Nicht direkt, aber sie oder er merkt die Intensität der Spannung im Gespräch. Das ist ja das Schöne, dass Flirten sehr im Verdeckten laufen kann, gleichzeitig fördert es das eigene Selbstbewusstsein: «Ich bin da und ich geniesse den Moment.»
Zeit_Genosse
elivi