Die Umarmung war innig, zwischen der Mentorin und der Schülerin. Oder: zwischen der Trainerin und der Spielerin. Soeben hatte sich das Schweizer Frauen-Nationalteam in Genf dank des 1:1 gegen Finnland erstmals an einer Endrunde für die Viertelfinals qualifiziert. Keeperin Livia Peng hatte tief in der Nachspielzeit einen Freistoss der Gäste abgefangen und damit den Vorstoss in die K.-o.-Phase festgehalten.
Es war keine schwierige Parade, aber sie war deswegen nicht weniger wichtig. Die 23-jährige Peng hatte einen fehlerfreien Match geliefert. Sie war der erhoffte Rückhalt für ihr Team. Genauso, wie sie bereits vier Tage zuvor gegen Island ohne Fehl und Tadel geblieben war. Da gewann die Schweiz 2:0.
Nadine Angerer ist die Torhütertrainerin im SFV. Sie hatte wenige Tage vor der EM den Entscheid mehr als nur mitgetragen, der rund um das Schweizer Team so viel zu reden gab. Elvira Herzog oder Livia Peng? Die Frage nach der Nummer 1 schleppte das Trainerteam mehrere Wochen mit sich herum. Eigentlich war ja alles klar. Herzog war im letzten Herbst zur Stammtorhüterin gemacht worden. Ein paar Patzer später wurde dann das Rennen um den Platz im Tor wieder eröffnet. Und erst sechs Tage vor dem EM-Start legte sich Angerer fest: Die Nummer 1 an der Heim-EM sollte Peng sein.
Nun, drei Tage vor dem Viertelfinal gegen Spanien, sitzt Nadine Angerer in Thun vor den Medien und erklärt das weitherum kritisierte Vorgehen. «Ich kann verstehen, dass das von aussen blöd aussah. Dieses Hin und Her. Aber es gibt halt nicht immer Schwarz oder Weiss. Und wir haben uns schon Gedanken gemacht und alles abgewägt», so die 46-jährige Deutsche.
Konkret wird Angerer in diesem Moment nicht. Aber sie lässt erahnen, dass letztlich die mentale Verfassung für Peng sprach. «Sie ist ein Mentalitätsmonster. Das hat sie auch bei Werder Bremen in der Bundesliga bewiesen. In den wichtigen Spielen ist sie bereit.» Doch Angerer ist nicht in diese kleine Medienrunde gekommen, um nur über Peng zu sprechen. Es ist ihr ein Anliegen, auch die degradierte Elvira Herzog zu loben. «Wie sie den Entscheid aufgenommen hat, war super. Ihr das mitzuteilen, war eines meiner schwersten Gespräche. Elvira zieht voll mit.»
Die Situation im Schweizer Tor mag speziell sein, ebendieses «Hin und Her», wie Angerer es selbst nennt. Und sie ist aufgrund ihrer Vergangenheit vielleicht gerade die richtige Ansprechpartnerin für Peng und Herzog. Angerer war die Torhüterin, welche den WM-Titel 2003 mit Deutschland als Ersatztorhüterin und ohne Einsatzminute erlebte, obwohl sie sich eigentlich als Deutschlands Nummer 1 sah. Solche Erfahrungen helfen ihr, ein Gefühl zu entwickeln für die Stimmungen ihrer Schützlinge im Schweizer Nationalteam. Sie war die Torhüterin, die später zugab, unter Versagensängsten gelitten zu haben, nachdem sie endlich zur Stammtorhüterin geworden war.
Solches geht vergessen, wenn man in Angerer eine Legende im Frauenfussball sieht. Die hochdekorierte, zweifache Weltmeisterin, fünffache Europameisterin, Weltfussballerin. Die Ikone, die mit ihrer sympathisch-frechen und eloquenten Art schon als Spielerin ein Liebling der Medien war. Die mit ihrer Offenheit im Umgang mit ihrer Homosexualität eine Vorreiterin für Gleichstellung und Inklusion gewesen war, lange bevor die LGBTQ+-Bewegung Fahrt aufnahm. Oder die der jungen Generation ein Begriff ist, weil sie seit Jahren in diversen TV-Shows mitwirkt wie «Dancing on Ice», «Global Gladiators» und «Showtime of my Life – Stars gegen Krebs». Oder zuletzt auf Pro7 in der Sendung «Das grosse Promibacken».
Ja, diese Nadine Angerer. Eine der grossen Persönlichkeiten des Fussballs sitzt also da im SFV-Camp – und man fragt sie: Weshalb die Schweiz? Sie erklärt es damit, dass sie von Pia Sundhage eine Anfrage erhalten habe, «und wenn Pia fragt, kann man schwer Nein sagen». Die Aussicht auf eine Heim-EM und Sundhages Motivation, «mit dieser Schweiz erfolgreich zu sein und etwas Grosses zu erreichen», hätten sie überzeugt.
Und nun hat die Schweizer Frauen-Nati tatsächlich Grosses erreicht. Dieses Grosse ist vielleicht weniger der Vorstoss in die EM-Viertelfinals als vielmehr die Euphorie, welche das Team im Land entfacht hat. Angerer ordnet ein: «Ich habe über zehn Jahre in Amerika gelebt. Dort fühlen sich die Menschen als die Besten. Die Schweizer und Schweizerinnen sind zurückhaltender. Zu sehen, wie hierzulande nun die Begeisterung geweckt wurde, das ist für mich einfach nur Gänsehaut pur. Das habe ich in meiner Karriere ähnlich nur an der Heim-WM mit Deutschland erlebt. Aber da sind wir dann in den Viertelfinals ausgeschieden.»
Wenn es am Freitag gegen Weltmeister Spanien geht, bedeuten die Viertelfinals womöglich auch für die Schweizerinnen Endstation. Das Ende von Angerers Zeit bei der Frauen-Nati müsste dies aber nicht besiegeln. «Ich sehe mich nicht unbedingt als Person für ein einzelnes Projekt. In den USA war ich über zehn Jahre bei demselben Verein.» Peng und Herzog würden es bestimmt begrüssen, weiter mit Angerer zu arbeiten. Und noch viele weitere, innige Umarmungen zu spüren.