Wahrscheinlich ist dies das Schlimmste an Netflix (und anderen Streamern): Dass uns immer weniger zugemutet wird. Dass eine schleichende Vereinfachung unseres Sehkonsums im Gang ist. Komplexe Inhalte schwinden, mit einem konzentriert zuschauenden Publikum wird nicht mehr gerechnet. Nur ja keine Rätsel aufgeben! Nur ja keine Unsicherheiten im Raum stehen lassen!
Der durchschnittliche Netflix-Schrott (eine löbliche Ausnahme ist aktuell «Leave the World Behind») geht so: Ein Mensch befindet sich in einer unguten Lage. Sie hat irgendwas mit seiner Vergangenheit zu tun. Deshalb gibt es drölfzigtausend Rückblenden. Und mülfzigmillionen innere Monologe. Und wenn mal was passiert, kann man sich sicher sein, davon noch viele Wiederholungen zu sehen. Es ist, als wäre man in einer Werbeschlaufe gefangen. Nur, dass die Darstellerinnen und Darsteller von Werbung häufig besser sind. Nach fünfzehn Minuten ist alles bereits derart klar, geheimnislos und breitgewalzt, dass die Erde ihre Dreidimensionalität verloren hat und tatsächlich zur Scheibe geschrumpft ist.
Wie anders ist dagegen ein Film wie «All of Us Strangers»! Wie angenehm verrätselt! Und dabei beginnt die Geschichte ganz schlicht. Drehbuchautor Adam (Andrew Scott, der «sexy priest» aus «Fleabag») versucht, die 80er-Jahre zu rekonstruieren; er will über seine eigene Kindheit schreiben, über seine Eltern, die bei einem Autounfall ums Leben kamen, als er noch nicht zwölf war. Adam lebt in einem Hochhaus am Rand von London, ein einziger Nachbar macht sich bemerkbar, Harry (Paul Mescal, der sexy Ire aus «Normal People» und demnächst der neue «Gladiator»). Wie praktisch, dass Adam und Harry beide schwul sind.
Harry scheint einem der 80er-Jahre-Musikvideos entsprungen zu sein, die Adam jetzt ständig auf dem TV laufen hat. Er könnte ein Mitglied der Band Frankie Goes to Hollywood sein, deren «Power of Love» auf vielen Ebenen eine Rolle spielt. Harry beklagt sich über zu viel Stille, klar, denkt man sich erst, ein Partyboy halt, gerne auf Ketamin, wie soll der da ein bisschen Stille überhaupt aushalten können – aber irgendwas stimmt mit der Stille nicht.
Und etwas anderes stimmt auch nicht: Adam, dessen grösstes Trauma es ist, dass er seinen Eltern nie sagen konnte, dass er einfach nicht auf Frauen steht, fährt in den Ort seiner Kindheit. Nach Dorking in den Suburbs von London. Klopft an die Tür seines Elternhauses. Und da sind sie, Mutter (Claire Foy, die erste Queen aus «The Crown») und Vater (Jamie Bell, einst «Billy Elliot»), beide lebendig und jung, für immer konserviert in den letzten Tagen vor ihrem Tod. Für immer 1987.
Eltern und Kind beginnen eine Konversation. Zwischen gestern und heute und Dies- und Jenseits, die Mutter will wissen, ob sie schnell gestorben sei, Adam belügt sie, der Vater hat weniger Mühe mit Adams Homosexualität als die Mutter, die beim Wort «gay» einzig an AIDS denken kann, an die grosse Seuche der 80er. Und Adam, der wie alle Kinder nichts will ausser der Absolution und Liebe der Eltern, wird süchtig nach den Besuchen zu Hause – die ja vielleicht auch einfach fantastische Ausgeburten seiner überreizten Psyche sein mögen, wir wissen es nicht.
Denn wie es in guter Fiktion und sonst nirgendwo möglich ist, werden hier die Gesetze der Logik zwischen Zeiten und Realitäten ausgehebelt und zu etwas Neuem erklärt. Wird eine Behauptung aufgestellt, die allerdings nur ein wirklich exquisites Ensemble überzeugend umsetzen kann. Und hell yes, they can! Das britisch-irische Quartett besässe selbst auf der Bühne die Kraft, eine andere Möglichkeit von Wirklichkeit so zu beschwören, dass wir sie glauben, aber im Kino, in Nahaufnahme, werden ihre Gesichter zu magischen Landschaften, in denen Gefühle und Erfahrungen ihre Täler, Furchen und Narben hinterlassen haben; besonders Claire Foy und Andrew Scott sind eine Offenbarung an Nuanciertheit. Und Mescals bärig-frivole Coolness ist der grosse Ausgleich, den dieser gefühlsmächtige, intime Film über Liebe, Tod und Ewigkeit braucht.
«All of Us Strangers» ist bereits die zweite Verfilmung des Romans «Strangers» von Taichi Yamada, der im November mit 89 Jahren gestorben ist. Regie führt der Brite Andrew Haigh, in jungen Jahren assistierte er beim Schnitt von «Gladiator» und «Black Hawk Down» und in den letzten Jahren arbeitete er unter anderem bei Brit Marlings ambitioniert gescheitertem Netflix-Fantasy-Mehrteiler «The OA» als Regisseur. Wenigstens in der ersten Staffel wurde man da noch selbstbewusst vor Rätseln stehen gelassen und nicht wie im Kindergarten an der Hand genommen. Marlings Einfluss auf Haigh ist gut sichtbar, in den kostbar arrangierten Bildern von geradezu interstellarer Einsamkeit und im Ende, von dem hier wirklich kein Ton verraten werden soll.
Bis dahin darf man selbst viel Detektivarbeit leisten und sich tausend Dinge fragen und soll unbedingt jedes Detail im Kopf behalten, soll alert bleiben fürs Zuschauen und Zuhören, soll auf Songzeilen, Aussichten und Räume achten. Es lohnt sich.
«All of Us Strangers» läuft ab dem 8. Februar im Kino.