Endlich wieder mal ein Disneyfilm, der weder Fortsetzung, noch Realverfilmung ist. Alleine das grenzt an eine erfrischende Wohltat. Er ist zudem das erste Disney-Originaldrehbuch seit «Vaiana» (2016) und der erste grosse Animationsfilm des Mauskonzerns dieser Dekade. Ein Schelm also, wer übersteigerte Erwartungshaltungen aufbaut.
Der Zyniker in mir säte im Vorfeld eifrig Zweckpessimismus, wie sich das bei solchen gross aufgegleisten Produktionen traditionsgemäss gehört. Doch dieser Zyniker wurde enttäuscht. Denn «Raya und der letzte Drache» ist ein Film, der alleine schon visuell unheimlich gewaltig ist und gleichzeitig das endgültige Ende der Disneyprinzessinnenära markieren dürfte.
Star des Films ist ohne jeglichen Zweifel die visuelle Umsetzung. Sie meistert den Balanceakt zwischen überschwänglicher Ästhetik und animierter Komik mit Bravour, wofür nicht nur ein unverkennbarer und clever inszenierter Realitätsanspruch, sondern auch ein Faible für Perspektiven und Winkel, die für einen Animationsfilm ungewöhnlich sind, verantwortlich ist.
Dabei ist klar, dass diese magische Fantasiewelt nicht gänzlich frei von jeglichem Kitsch ist, respektive sein kann. Von diesem Kitsch wird jedoch nur dezidiert Gebrauch gemacht und er lehnt sich in seiner Ästhetik denn auch eher an die japanische Filmtradition, denn an Hollywood-Pomp an. Für das breite, von Hollywood dauerberieselte Publikum führt dies zu einer verhältnismässig erfrischenden Seherfahrung.
Für Disney eher überraschend ist indes die visuelle Detailversessenheit. Haarsträhnen, Felle, Blumen, Flüsse – überall ist mindestens eine Strukturebene dazugekommen. Das spiegelt sich mitunter auch in der Mimik der Figuren wieder, die so an Menschlichkeit gewinnen und eine ausdrucksstarke zweite Kommunikationsebene erhalten. Insgesamt erzeugt dieser neuere Ansatz – gerade in Kombination mit einer surrealen Welt – einen teils überraschend spektakulären Effekt.
Es scheint ganz so, als wären die Disneyprinzessinnen endgültig Geschichte. Vaiana tastete das weibliche Disneydasein ohne Krone und Adel behutsam ab und Raya schlägt nun beherzt in ebendiese Kerbe. Männer sind in diesem Film ausnahmslos in Nebenrollen anzutreffen. Selbst der letzte Drache, der gefunden wird (keine Angst, das ist erst der Anfang der Geschichte), ist weiblich.
Auch die weiblichen Charaktere sind für einen Disneyfilm unüblich psychologisiert. Es werden keine weichen, zarten Mädchen oder vor Empathie und Sehnsucht triefende Frauen gezeigt. Hier tragen Frauen markante Undercuts, prügeln (natürlich nur für einen guten Zweck) sich und überlisten sich gegenseitig mit Cleverness und, ja, teils gar mit kalkulierter Hinterlistigkeit. Auch sie sind keine perfekten Wesen frei von Zorn und Makel, dafür frei von Röcken. Von daher ein Film wie «Mulan», wenn die Macher Mut gehabt hätten.
In dieser Hinsicht kann der Film durchaus als Fabel gelesen werden, der weibliche Selbstbestimmung und feminine Stärke mit aller Entschlossenheit an ein junges Publikum heranträgt. Denn auch Jungs werden nicht negieren können, dass diese Raya ziemlich cool ist und Mädchen als solche vielleicht gar nicht mal so blöd oder schwach sind.
Das alles ist insgesamt vielleicht zu fabelhaft, wobei «fabelhaft» wörtlich – im Sinne von wie eine Fabel anmutend – gemeint ist. Die Handlung ist letztlich ausgesprochen generisch. Die Zwietracht zwischen Menschen kann nur durch Vertrauen geheilt werden, denn nur wenn diese Zwietracht überwunden wird, kann das gesichtslose Böse besiegt werden. Das ist bereits nach zehn Filmminuten klar. Narrativ bleibt der Film im sicheren Hafen der perfekten Ideologie mit makellosem Happyend stecken.
Das ist für ein Kinderfilm natürlich weder verwunderlich noch per se schlecht. Auf dieser Ebene droht der Film jedoch phasenweise ins Klischeehafte abzudriften, was der Glaubwürdigkeit des Gesamtprojekts leider schadet.
Unterstützt wird dieses Klischeehafte von der Charakterisierung der Nebendarsteller, wobei sich der sanfte Riese zum gutmütigen Waisen, dem frechen Baby, dem schusseligen Drachen und natürlich dem ach so herzigen Fabeltier an Rayas Seite gesellt. Eine vorhersehbar illustre Truppe, die unserer Erwartung entsprechend zusammenwächst.
Kontrastiert wird diese Vorhersehbarkeit jedoch durch einen narrativen Twist gegen Ende des Films. Aufgrund der Spoilergefahr kann an dieser Stelle nicht genauer drauf eingegangen werden. Es sei nur gesagt, dass das Heldendasein in seiner Natur bis zu einem gewissen Grad gründlich auf den Kopf gestellt wird.
Nicht schlecht, aber schade ist es, dass die revolutionär anmutende Idee letztlich dennoch von gewissen Klischees ummantelt wird. Denn die Message, die wie angetönt richtig und wichtig ist, wird verwässert und droht den jüngeren Disneyfans zwischen Klischee, Kämpfen und Kuscheltieren zu entgleiten.
Die positiven Aspekte von «Raya und der letzte Drache» überwiegen mit Abstand. Da ändert auch nichts dran, dass gewisse Elemente von Klassikern wie «Chihiros Reise ins Zauberland» vermeintlich imitiert werden oder dass das eine oder andere Disneyklischee kompromisslos ausgeschlachtet wird. Es ist und bleibt ein wahnsinnig imposanter Film, der einen wichtigen Schritt in die richtige Richtung macht.
Ebenfalls positiv zu gewichten ist das Sounddesign, das den Film endlich unterstützt, anstatt den Film zu übermalen. Das kommt selbstredend auch dem angestrebten Realismus des Streifens entgegen. Es ist spürbar, wie auf jeglichen Ebenen des Films mit dem Anspruch gearbeitet wurde, einen Meilenstein zu erschaffen. Ob das gelingt, wird sich zeigen. Es ist nicht wahrscheinlich, aber durchaus denkbar.
Die Kinder dürften jedenfalls nach allen Regeln der Kunst unterhalten werden – auch wenn die ganz grossen Messages vermutlich noch zu sehr von Klischees überlagert werden. Auch für Erwachsene bietet der Film wirklich genug für einen gemütlichen Filmabend. Im schlimmsten Fall werden sie schlicht vom Visuellen des Films weggeblasen.
Filmstart: Ab dem 5. März kann Raya und der letzte Drache via VIP-Zugang auf Disney+ gestreamt werden (Preis: CHF 29.-). Ab dem 4. Juni ist der Film ohne Zusatzgebühr auf Disney+ verfügbar. Es ist zudem geplant, dass der Film in den Schweizer Kinos anlaufen wird, sobald dies die Situation zulässt.
Disney-Prinzessinnen haben sich immer weiterentwickelt, und gerade in den neueren Filmen (Vaiana, Frozen, Neu verföhnt, Brave, Küss den Frosch...) werden die weiblichen Hauptfiguren m.M.n. definitiv nicht als hilflos dargestellt.
Übrigens auch nicht in allen älteren Filmen, z.B. Prinzessin Eilonwy (?) in Taran und der Zauberkessel.
Ich glaube nicht, dass alle älteren Prinzessinnen jetzt obsolet werden. Dafür werden sie viel zu sehr geliebt.
Mulan gehört z.B. noch heute zu einem meiner liebsten Disney-Filme.