Sie ist 70 bis 80 Meter lang und ihre Hauptattraktion ist ein Stand der Fritten-Mafia Berlin. Sie ist eine der kleinsten, schmalsten, nebensächlichsten Strassen am Potsdamer Platz, ein Würmlein von einer Strasse. Sie heisst Varian-Fry-Strasse. Varian Fry war ein Held. Und es war ausgerechnet die Varian-Fry-Strasse, die jetzt zum siebenteiligen Netflix-Serienhit «Transatlantic» geführt hat.
Denn eines Tages schlenderte die amerikanische Serienentwicklerin Anna Winger («Unorthodox») mit ihrem Vater über den Potsdamer Platz und angesichts des Strassenschilds fragte er seine Tochter: «Weisst du eigentlich, wer Varian Fry ist?» Sie wusste es nicht. Und der Vater erzählte ihr die Geschichte des jungen amerikanischen Journalisten, der 1940 und 41 über 2000 Jüdinnen und Juden von Marseille aus zur Flucht über den Atlantik verholfen hatte.
Fry hatte 1935, im Alter von 28 Jahren, in Berlin als Auslandkorrespondent für ein amerikanisches Magazin gearbeitet und die Verbrechen der Nazis an den Juden beobachtet, er schrieb darüber in der «New York Times» und publizierte mehrere Bücher, er war bei allem ein zurückhaltender, reflektierter, höflicher Mann. 1940 erhielt er – unterstützt von der Präsidentengattin Eleanor Roosevelt – den Auftrag, von Marseille aus verfolgte europäische Künstler, Intellektuelle und Nobelpreisträger zu retten. Ein reichlich elitärer Auftrag, den Fry angesichts der riesigen Masse der Verzweifelten schon bald aufgab.
13 Monate lang betrieb Fry im Hotel Splendide in Marseille das Emergency Rescue Committee. Versteckte Flüchtende erst im Hotel und dann in der Villa Air-Bel. Besorgte gefälschte Pässe und Visa, schmuggelte die Menschen, die ihm sein Leben anvertrauten, auf Schiffe oder transportierte sie persönlich im Auto nach Spanien.
Unterstützt wurde er dabei von der finanziell potenten Erbin Mary Jane Gold aus Chicago, deren Familie mit der Erfindung und Herstellung von Heizsystemen für Eisenbahnen reich geworden war. 1930 war sie als steinreiche 21-Jährige nach Paris ausgewandert und verbrachte dort zehn Jahre mit Partys. Sie war Pilotin, besass ein eigenes Flugzeug, erkundete damit ganz Europa und flog besonders gerne in die teuersten alpinen Schweizer Luxusressorts zum Skifahren. Sie war bekannt für ihre «herrlich entspannte, nüchterne Ausstrahlung» und ihren « warmen Sinn für Humor», wie eine Bekannte sie beschrieb.
Als die Nazis 1940 Paris besetzten, verschenkte sie ihr Flugzeug an die französische Luftwaffe und zog mit ihrem Hund Dagobert, der dafür bekannt ist, beim Wort «Hitler» wie wild zu bellen, nach Marseille. Dort lernte sie Fry kennen. Er hält sie für ein dummes, dekadentes Playgirl, sie ihn für steif und unnahbar. Doch er braucht ihr Geld. Und sie einen Lebensinhalt.
Die österreichische Kommunistin Lisa Fittko organisierte die berühmte Fluchtroute nach Spanien durch die Pyrenäen – jene Route, auf der sich der deutsche Philosoph Walter Benjamin aus Angst vor einer neuerlichen Verhaftung das Leben nahm.
Retten konnten die drei und ihre Handvoll Helferinnen und Helfer: den Maler Marc Chagall und seine Frau; die Philosophin Hannah Arendt; die Schriftstellerin Anna Seghers; den Filmemacher Max Ophüls; die Künstler Jean Arp, Hans Bellmer, Max Ernst; die Künstlerin Sophie Taeuber; die Schriftsteller Heinrich Mann, Lion Feuchtwanger, Franz Werfel, André Breton, Walter Mehring; den Kritiker Siegfried Kracauer; den Anthropologen Claude Lévi-Strauss; den Historiker Golo Mann; den Medizin-Nobelpreisträger Otto Meyerhof und viele bedeutende Namen mehr. Oder auch einfach: Die kreative und intellektuelle Elite ihrer Zeit. Niemand von ihnen hat Fry, Gold oder Fittko jemals öffentlich gedankt.
Es war ein Kampf gegen die Nazis und gegen die kollaborierende französische Polizei und schliesslich werden Fry und Gold im September 1941 aus Frankreich ausgewiesen. Bis zu seinem Tod 1967 engagiert er sich weiterhin als Publizist und Berater gegen Nazideutschland und für Kriegsflüchtlinge, in Amerika ist er ein sehr bescheidener Held und leidet zunehmend unter Depressionen. Er stirbt vereinsamt an einer Hirnblutung. Gold und er sind bis zuletzt beste Freunde. Beide beschreiben die gemeinsame Zeit in Marseille als die beste ihres Lebens.
Nach seinem Tod werden ihm mehrere Auszeichnungen, Strassen und kleinere Denkmäler gewidmet, sein Leben wird in Filmen und Romanen fiktionalisiert, und im Roman «The Flight Protocol» von Julie Orringer, der nun der Serie «Transatlantic» massgeblich mit zugrunde liegt, wird zum ersten Mal sein verborgenes Leben als Schwuler thematisiert. Konservative Fry-Fans finden dies eine abscheuliche Erfindung, sein Sohn James bestätigt es jedoch 2019 in der «New York Times» mit den Worten: «Mein Vater war tatsächlich ein verkappter Homosexueller.»
Mary Jane Gold überlebt ihn um ganze dreissig Jahre und trägt 1980 mit ihrer Autobiografie «Crossroads Marseilles 1940» wesentlich zu seinem Ruhm bei. Sie lebt in New York und in der Nähe von Saint-Tropez. Über ihr Liebesleben ist nichts bekannt, angeblich lebte sie nach einer leidenschaftlichen Affäre mit einem Fremdenlegionär in Marseille immer glücklich allein.
Lisa Fittko floh 1941 mit ihrem späteren Mann nach Kuba, 1948 zogen die beiden nach Chicago, wo sie als Fremdsprachenkorrespondentin arbeitete und sich weiterhin in der Friedensbewegung engagierte. 2001 erlebte sie noch die Errichtung einer Gedenkstätte in Banyuls-sur-Mer, wo ihre Fluchtroute nach Spanien begonnen hatte. 2005 starb sie in Chicago.
Es ist insgesamt ein unfassbar reicher Schatz an Schicksalen und Geschichten, den Anna Winger für ihre Miniserie geborgen hat, und man muss ihr sehr zugute halten, dass sie die bei uns weitgehend unbekannten, mutigen und widerständigen Menschen in unser Bewusstsein holt. Aber Winger hätte daraus auch mühelos eine grössere Serie in drei Staffeln machen können. «Transatlantic» ist immerhin ein Anfang, und es ist zu hoffen, dass das Netflix-Publikum dadurch neugierig geworden ist und sich selbst auf eine weitere Spurensuche einlässt.
«Transatlantic» behandelt die 13 atemberaubenden Monate des Emergency Rescue Committees in Marseille. Und will dabei vor allem eins: unterhalten, unterhalten, unterhalten. Alle Hauptfiguren brauchen dazu unweigerlich saftige Liebesgeschichten, alle sehen dabei unglaublich gut aus, sind superschöne Menschen in superschönen Kostümen. Ein inneramerikanerischer Konflikt mit einem fiesen erfundenen Konsul (Corey Stoll) wird aufgebaut, afrikanische Hotelangestellte entpuppen sich als die radikalsten Widerstandskämpfer, und Figuren wie Hannah Arendt und Walter Benjamin müssen immerzu Kernsätze ihres Werks wie popintellektuelle Kalendersprüche vor sich hertragen. Die französische Polizei ist konstant im Louis-de-Funès-Modus.
Alle sind fiebrig, ja heilig beseelt von ihren guten Taten und haben deswegen echt gute Laune. Und hey, die Feste müssen auch hier gefeiert werden, als befände man sich im Tanzpalast von «Babylon Berlin», denn erstens ist man in Frankreich und zweitens lässt sich filmisch wirklich nicht besser zeigen, wie sehr jemand AM LEBEN ist. Überhaupt leistet die Saucière der bonbonbunten Bekömmlichkeit ganze Arbeit. So viel Spass am Widerstand war selten, Marseille ist ein reiner, adrenalinpraller Abenteuerparcours. Es herrscht hier ein klares Bekenntnis zur Banalisierung des Schreckens. Operette statt Oper halt.
Trotzdem schaut man dieser kitschverpackten Geschichtslektion gerne zu, die Erzählweise der beiden Schweizer Regisseurinnen Stéphanie Chuat und Véronique Reymond ist enorm süffig, Gillian Jacobs ist eine sehr charmante Ms. Gold und Cory Michael Smith ein ungemein einnehmender, fragiler Varian Fry, der es (wie der historische Mr. Fry) nie so richtig fassen kann, wie viele Menschen ihre letzte Hoffnung auf ihn setzen. Die Schweizerin Deleila Piasko erhält als Lisa Fittko enttäuschend wenig Spielzeit, und zum ersten Mal sähe man auch von Moritz Bleibtreu (als Walter Benjamin) gerne etwas mehr.
Unter den Darstellenden ist übrigens auch jener mit bürgerlichem Namen aufgeführt, der sowieso allen die Show stiehlt: Dagobert, der historisch verbürgte Hund von Mary Jane Gold, dem hier ein paar Stunts auf den kleinen Leib gedichtet wurden. Sein Darsteller in «Transatlantic» hört weder auf einen französischen noch auf einen amerikanischen Namen. Er heisst nach einem wahrhaft völkerversöhnenden Gericht Risotto.